Archiv für den Monat: Mai 2016

John Stuart Mill und die Freiheit

Am 8. Mai 1873 starb der liberale Ökonom und Philosoph John Stuart Mill. Er war ein früher Verfechter der Emanzipation der Frau, überzeugter Anhänger des Utilitarismus und Schöpfer des Wortes Dsytopie zur Bezeichnung einer negativen Utopie.

Heute, am Tag der Befreiung, der, wie Richard von Weizsäcker 1984 sagte, auch ein Tag der Befreiung für Deutschland vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft war, möchte ich einen wichtigen Satz von Mill herausheben. Er ist aus seinem Werk On Liberty (1859):

That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others.

J. S. Mill nennt dies ein wirklich einfaches Prinzip (one very simple principle). Doch heute reiben wir uns die Schläfen wund, wann und wie denn nun die Freiheit eines Individuums eingeschränkt werden kann, bzw. wann auf offiziellem Weg ermittelt werden darf, ob ein solcher Fall eingetreten sei.

Ich spiele selbstverständlich auf Jan Böhmermann an, dessen Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“ gerade in aller Munde ist. Dem manchmal geistreichen Unterhaltungskünstler hat die große Öffentlichkeit nicht gut getan. Er versteigt sich zu einer Merkel-Kritik, die nur zeigt, dass er – wie viele – den eigentlichen Kern der Sache nicht verstanden hat. Von großen Teilen der Bevölkerung erwarte ich ja nichts anderes. Aber Böhmermann hätte die letzten Tage zum Nachdenken nutzen können.

Filetiert habe die Kanzlerin den Moderator und einem nervenkranken Despoten zum Tee serviert. Na, das klingt jetzt aber dramatisch. Frau Merkel bekannte, dass das eigentliche Schmähgedicht für sie bewusst verletzend sei. Sie sagte dies dem Präsidenten der Türkei, aber sie sprach doch nicht ex cathedra. Ein solcher Satz hat, auch aus dem Munde der Bundeskanzlerin, keine konstituierende Wirkung. Und dass die Regierung letztendlich ein Verfahren zur Prüfung zulässt, so wie es in geltenden Gesetzen vorgesehen ist, lässt sich in meinen Augen schwer zu einem haltbaren Vorwurf nutzen.

Einen deutschen Ai Weiwei habe Angela Merkel aus ihm gemacht, sagt Böhmermann weiter. Da kann ich ihn beruhigen. Es gibt wohl nichts, was die Kanzlerin machen oder sagen könnte, um Böhmermanns Niveau zu heben, schon gar nicht auf das des großen Ai Weiwei. Selbstverständlich ist eine Voruntersuchung und ein letztendliches Strafverfahren keine angenehme Sache. Und über die menschliche Not Böhmermanns möchte ich mich nicht erheben. Ich glaube aber, Ai Weiwei wäre deutlich glücklicher, wenn er all seine gegen ihn gerichteten Ermittlungen und Verfahren in Deutschland und nach deutschem Recht erdulden müsste. Das sollten wir nicht vergessen.

Wir leben nicht in einer Welt der unbegrenzten Freiheit, die persönliche Freiheit ist genau so beschränkt wie die Presse- und die Kunstfreiheit. Und das ist gut so. Denn die Freiheit, die wir haben, soll für alle gelten.

Eins möchte ich noch sagen: Ich hoffe, dass Jan Böhmermann freigesprochen wird. Ich denke, dass er diese Nummer mit dem Schmähgedicht recht geschickt eingefädelt hat. Ihm liegt – und da muss ich eine Polemik zum Niveau Böhmermanns leicht revidieren – fast etwas Faustisches inne. Wir erinnern uns an der Tragödie zweiten Teil. In seinem letzten Monolog sagt Faust:

Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!

Diese letzten Worte lassen Mephisto an den Sieg der Wette glauben. Doch der Teufel hat nicht genau hingehört; Faust hat im Konjunktiv gesprochen. Ähnlich verhält es sich mit dem Schmähgedicht. Natürlich kann man nicht unter der Überschrift „Ich zeige euch mal, was man nicht machen darf“ ungestraft einen Mord begehen. Aber auf der verbalen Ebene ist ein solches Verfahren statthaft. Sonst befinden wir uns in einer von Monty Python beschriebenen Szene: „Es ist verboten, Jehova zu sagen!“ – Na, wer hat jetzt „Jehova“ gesagt?

Aber das gerichtlich untersuchen zu lassen, muss erlaubt bleiben. Wir leben in einem Rechtsstaat. Der wirkt manchmal etwas schwerfällig. Der Lynchmob ist da deutlich agiler. Möchte jemand tauschen?

Die Freiheit jedes Einzelnen zu bewahren und vor ausufernden Handlungen anderer zu schützen, ist ein fortwährender Aushandlungsprozess. Jan Böhmermann ist dieser Tage zu einem prominenten Beispiel geworden, einen tragischen Helden macht ihn das aber noch lange nicht. Der, nämlich Faust, sagte kurz vor den oben zitierten Worten noch den Satz, mit dem ich meinen Eintrag abschließen möchte:

Das ist der Weisheit letzter Schluss:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muss.

10 Jahre Blindgänger – Das Doppelkonzert im Bandhaus Leipzig

Wenn sich 16-Jährige zu einer Band formieren, mögen sie glauben, einen Bund fürs Leben geschlossen zu haben. Doch oft ist dann schon die nächste Freundin wichtiger als die Bandproben, und spätestens der Schulabschluss, die Ausbildung oder der neue Job bedeutet das Aus für das ehrgeizige Projekt. Welche Band überlebt auch nur fünf Jahre?

Mit den Blindgängern stand am Freitag und wieder am Sonnabend eine Gruppe von Musikern vor den jeweils rund 150 Zuschauern, die ihre Ideen nun schon seit zehn Jahren mit Überzeugung, Verve und der nötigen Chuzpe vertreten – und mit geradlinigem Rock ’n’ Roll unterschiedlicher Subgenres.

Zehn Jahre Blindgänger. Darauf kann man schon stolz sein. Doch es verleitet die Fünf nicht zur Hybris. Deshalb nutzten sie ihr Doppelkonzert zum Bandgeburtstag nicht zur ausgelassenen Selbstbeweihräucherung, sondern vielmehr, um sich in der Musiklandschaft der härteren Töne zu verorten. Das Bandhaus der Bandcommunity Leipzig ist dafür genau der richtige Ort. Beide Abende liefen nach der gleichen Dramaturgie: ein Anheizer zu Beginn, dann die immer noch jugendlichen Jubilare und schließlich jeweils ein Headliner, der deutlich macht, dass sich die Blindgänger ganz und gar nicht überschätzen.

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Am Freitag eröffnen Störfall das Feierwochenende mit solidem Metal-Punk und die Crushing Caspars aus Rostock lassen bis Mitternacht mit dem von ihnen geprägten Baltic Sea Hardcore das Bandhaus wackeln. Zum Sonnabend machen die Stoner Shotgun Valium aus Erfurt den Anfang. In tiefster Nacht geben sich zum Abschluss die Nitrogods die Ehre: Harter Rock mit Anklängen von Bluesrock und Psychobilly. An beiden Abenden spielen die Blindgänger an zweiter Stelle. Und an beiden Abenden haben sie völlig unterschiedliche Setlists. Da zeigt sich die umfangreiche Bandgeschichte. Sie sind die zehn Jahre eben alles andere als untätig gewesen.

Nur ein Lied wiederholt sich: „Da faucht der Aal“ von dem im Herbst 2012 erschienenen Album „Antrieb“. Würde dieser Teil der Musikszene in Singleauskopplungen denken, wäre das wohl ihr Top-Seller. Der Titel kommt von einer Äußerung des Techniker-Titan und Anker Urgestein Flori, der die Blindgänger beim Courage Jugendfestival 2011 ins Herz geschlossen hatte. Flori starb 2014 völlig überraschend. Hier war ihm schon zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt.

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Die Spielfreude ist den fünf jungen Männern immer anzumerken. Im Hintergrund sitzt Das Uhrwerk und gibt den Takt vor. Bereits nach wenigen Liedern spielt er mit freiem Oberkörper. Der Bass wird in vielen Bands vom ruhigsten und trockensten Typen gespielt. Nicht so bei den Blindgängern. Marv Vader zeigt in jedem Augenblick, wie Hardrock der späten 70er und frühen 80er gespielt werden muss. Nach dem Konzert habe ich selbst einmal versucht, so breitbeinig zu stehen und headbangend einen imaginären Bass zwischen meinen Beinen baumelnd zu spielen. Es ist schier unmöglich, so den Takt zu halten, aber Marv gelingt das spielend. The Holy Matze und Mr. Longneck an den Gitarren geben dem Sound der Band, was er für heutigen Rock braucht – die Mischung aus ständigem und harten Schlag und aufjaulenden Spitzen. Schließlich El Rich, der als Sänger eine echte Rampensau von großem Format ist. Zwischen den Songs gibt er noch ein paar Sprüche, widmet die Hälfte des Konzerts dem jüngst verstorbenen Lemmy, und zwischen den Schlucken aus der Bierflasche spuckt er auch mal ins Publikum. Ein paar Tropfen landeten auch auf meinem Gesicht. Nun bin ich ein Gesegneter des Punkrock.

Ich denke gern in Systematiken: Hard Rock, Heavy Metal, Punk, Hardcore. Nach der genauen Musikrichtung der Band gefragt, antwortet mir El Rich nach dem Auftritt: „Mir ist egal, in welche Schublade wir gesteckt werden. Hauptsache die Schublade ist in der Nähe des CD-Players.“ – Das muss ich wohl so hinnehmen.

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Seit zehn Jahren gibt es diese Band. Seit zehn Jahren beobachte ich ihre Entwicklung, mal näher dran, mal weiter weg. Aber was ich an diesem Wochenende gehört habe, überzeugt mich. Sie haben einen weiten Weg zurückgelegt, von den ersten Songs im Proberaum des Soziokulturellen Zentrums „Die VILLA“ über den Sieg beim Bandwettbewerb zum Courage Jugendfesttival bis zum heutigen Jubiläum. Und jetzt möchte ich die Blindgänger auf den großen Festivalbühnen sehen. Wir würden alle gewinnen!

Geburtstag von Gottfried Benn

Heute würde Gottfried Benn 130 Jahre alt. Das sagt man ja so, wenn eine historisch bedeutsame Person Geburtstag hat. Man nimmt den Konjunktiv, als stünde zwischen dem Menschen und diesem Jubiläum nur eine kleine Bedingung, die in diesem Fall einmal nicht erfüllt wurde. Eigentlich soll man diese Formulierung nur gebrauchen nach einem unzeitigen Tod.

70 Jahre wurde Benn. 1956 starb er in Berlin. Er war Arzt, Essayist und Dichter. In meiner Schulzeit ergötzte ich mich an seinen frühen Morgue-Gedichten. Das waren auch für uns noch Schocker. Heute bevorzuge ich seine späten Werke: Jena vor uns im lieblichen Tale …

Kämpfen am 1. Mai

Als Freiberufler über die Rechte der Arbeitnehmer zu schwadronieren, ist wohl doch eher unpassend. Nun soll aber der 1. Mai ein Kampftag sein. Wäre heute nicht Sonntag, hätten wir ja trotzdem frei. Wofür kann man kämpfen? Da fallen mir sofort die LGBT-Rechte ein. Der US-amerikanische Singer/Songwriter Tom Goss kämpft ganz charmant für die Gleichstellung Homosexueller. Und seine Lieder kann man sich auch noch gut anhören.

Das Lied Son of a preacher man hat ja schon seit der Aufnahme von Dusty Springfield etwas Schlüpfriges. Nun wird es – meines Wissens erstmalig – in einem schwulen Kontext verwendet. War eigentlich schon länger fällig. Toll! Vielen Dank, Tom Goss!