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Geburtstag von Jakob van Hoddis

Mit dem Namen Jakob van Hoddis verbindet sich deutschunterrichtswirksam die Geburtsstunde des literarischen Expressionismus. Sein Gedicht Weltende traf den Puls seiner Zeit und hat, das wollen wir gleich durch die Wiedergabe des Textes zeigen, in unserer internetgestützten Nachrichtenwelt nicht an Aktualität verloren:

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Am 16. Mai 1887 wurde Jakob van Hoddis in Berlin als Hans Davidsohn geboren. 1911 erschien Weltende erstmalig in der Berliner Zeitschrift Der Demokrat. Seit 1912 ist sein Lebensweg geprägt durch seelische Krisen bis hin zur geistigen Umnachtung. In einem anderen Gedicht von 1911 schreibt er prophetisch: All meine Pfade rangen mit der Nacht. Nach vielen Klinikaufenthalten und Vormundschaft kam er 1933 in die Israelitischen Heil- und Pflegeanstalten in Bendorf-Sayn. 1942 wurden die Patienten mit dem Pflegepersonal verschleppt und ermordet. Wahrscheinlich starb van Hoddis im Vernichtungslager Sobibor an der heutigen polnisch-ukrainischen Grenze. Er wurde 55 Jahre alt.

55 Jahre nach der Veröffentlichung von Weltende und genau am Geburtstag dieses ersten Expressionisten erschien mit Pet Sounds nicht nur das wohl beste Album der Beach Boys sondern ein unverrückbarer Meilenstein der Rock- und Popmusik. Ewiger Konkurrent Paul McCartney sagte über das Album: Ich glaube, niemand weiß wirklich was über Musik, solange er dieses Album nicht gehört hat. Die Frustration über die folgende Beatles-Veröffentlichung (Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band), der steigende Drogenkonsum, Probleme bei der Kommunikation seiner Vision gegenüber seinen Mitmusikern und nicht zuletzt eine psychische Erkrankung verhinderten die weitere Karriere des Brian Wilson. Was wir bis heute von ihm hören, ist ein Wundenlecken. Auch darin ist er noch groß, aber nicht mehr olympisch.

John Stuart Mill und die Freiheit

Am 8. Mai 1873 starb der liberale Ökonom und Philosoph John Stuart Mill. Er war ein früher Verfechter der Emanzipation der Frau, überzeugter Anhänger des Utilitarismus und Schöpfer des Wortes Dsytopie zur Bezeichnung einer negativen Utopie.

Heute, am Tag der Befreiung, der, wie Richard von Weizsäcker 1984 sagte, auch ein Tag der Befreiung für Deutschland vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft war, möchte ich einen wichtigen Satz von Mill herausheben. Er ist aus seinem Werk On Liberty (1859):

That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others.

J. S. Mill nennt dies ein wirklich einfaches Prinzip (one very simple principle). Doch heute reiben wir uns die Schläfen wund, wann und wie denn nun die Freiheit eines Individuums eingeschränkt werden kann, bzw. wann auf offiziellem Weg ermittelt werden darf, ob ein solcher Fall eingetreten sei.

Ich spiele selbstverständlich auf Jan Böhmermann an, dessen Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“ gerade in aller Munde ist. Dem manchmal geistreichen Unterhaltungskünstler hat die große Öffentlichkeit nicht gut getan. Er versteigt sich zu einer Merkel-Kritik, die nur zeigt, dass er – wie viele – den eigentlichen Kern der Sache nicht verstanden hat. Von großen Teilen der Bevölkerung erwarte ich ja nichts anderes. Aber Böhmermann hätte die letzten Tage zum Nachdenken nutzen können.

Filetiert habe die Kanzlerin den Moderator und einem nervenkranken Despoten zum Tee serviert. Na, das klingt jetzt aber dramatisch. Frau Merkel bekannte, dass das eigentliche Schmähgedicht für sie bewusst verletzend sei. Sie sagte dies dem Präsidenten der Türkei, aber sie sprach doch nicht ex cathedra. Ein solcher Satz hat, auch aus dem Munde der Bundeskanzlerin, keine konstituierende Wirkung. Und dass die Regierung letztendlich ein Verfahren zur Prüfung zulässt, so wie es in geltenden Gesetzen vorgesehen ist, lässt sich in meinen Augen schwer zu einem haltbaren Vorwurf nutzen.

Einen deutschen Ai Weiwei habe Angela Merkel aus ihm gemacht, sagt Böhmermann weiter. Da kann ich ihn beruhigen. Es gibt wohl nichts, was die Kanzlerin machen oder sagen könnte, um Böhmermanns Niveau zu heben, schon gar nicht auf das des großen Ai Weiwei. Selbstverständlich ist eine Voruntersuchung und ein letztendliches Strafverfahren keine angenehme Sache. Und über die menschliche Not Böhmermanns möchte ich mich nicht erheben. Ich glaube aber, Ai Weiwei wäre deutlich glücklicher, wenn er all seine gegen ihn gerichteten Ermittlungen und Verfahren in Deutschland und nach deutschem Recht erdulden müsste. Das sollten wir nicht vergessen.

Wir leben nicht in einer Welt der unbegrenzten Freiheit, die persönliche Freiheit ist genau so beschränkt wie die Presse- und die Kunstfreiheit. Und das ist gut so. Denn die Freiheit, die wir haben, soll für alle gelten.

Eins möchte ich noch sagen: Ich hoffe, dass Jan Böhmermann freigesprochen wird. Ich denke, dass er diese Nummer mit dem Schmähgedicht recht geschickt eingefädelt hat. Ihm liegt – und da muss ich eine Polemik zum Niveau Böhmermanns leicht revidieren – fast etwas Faustisches inne. Wir erinnern uns an der Tragödie zweiten Teil. In seinem letzten Monolog sagt Faust:

Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!

Diese letzten Worte lassen Mephisto an den Sieg der Wette glauben. Doch der Teufel hat nicht genau hingehört; Faust hat im Konjunktiv gesprochen. Ähnlich verhält es sich mit dem Schmähgedicht. Natürlich kann man nicht unter der Überschrift „Ich zeige euch mal, was man nicht machen darf“ ungestraft einen Mord begehen. Aber auf der verbalen Ebene ist ein solches Verfahren statthaft. Sonst befinden wir uns in einer von Monty Python beschriebenen Szene: „Es ist verboten, Jehova zu sagen!“ – Na, wer hat jetzt „Jehova“ gesagt?

Aber das gerichtlich untersuchen zu lassen, muss erlaubt bleiben. Wir leben in einem Rechtsstaat. Der wirkt manchmal etwas schwerfällig. Der Lynchmob ist da deutlich agiler. Möchte jemand tauschen?

Die Freiheit jedes Einzelnen zu bewahren und vor ausufernden Handlungen anderer zu schützen, ist ein fortwährender Aushandlungsprozess. Jan Böhmermann ist dieser Tage zu einem prominenten Beispiel geworden, einen tragischen Helden macht ihn das aber noch lange nicht. Der, nämlich Faust, sagte kurz vor den oben zitierten Worten noch den Satz, mit dem ich meinen Eintrag abschließen möchte:

Das ist der Weisheit letzter Schluss:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muss.

Geburtstag von Gottfried Benn

Heute würde Gottfried Benn 130 Jahre alt. Das sagt man ja so, wenn eine historisch bedeutsame Person Geburtstag hat. Man nimmt den Konjunktiv, als stünde zwischen dem Menschen und diesem Jubiläum nur eine kleine Bedingung, die in diesem Fall einmal nicht erfüllt wurde. Eigentlich soll man diese Formulierung nur gebrauchen nach einem unzeitigen Tod.

70 Jahre wurde Benn. 1956 starb er in Berlin. Er war Arzt, Essayist und Dichter. In meiner Schulzeit ergötzte ich mich an seinen frühen Morgue-Gedichten. Das waren auch für uns noch Schocker. Heute bevorzuge ich seine späten Werke: Jena vor uns im lieblichen Tale …

Lyrik zum Sonntag

Die Lyrik, an sich das sonnigste Musenkind, führt in unserer Zeit ein Schattendasein. Wann ist der richtige Zeitpunkt, ein Gedicht zu lesen? Und wie liest man es? Tatsächlich kann ein Gedicht beim ersten Lesen seine volle Schönheit nicht entfalten. Ich glaube, ein Gedicht muss auswendig aufgesagt werden, um auch für den Sprecher ein Genuss zu werden. Wir kennen das von Pop-Songs, die wir mitsingen wollen oder gar allein unter der Dusche singen.

Der Sprecher und Schauspieler Fritz Stavenhagen hilft uns beim Rezipieren von lyrischen Werken. Er spricht sie ein, und wir können den Text lesen und gleichzeitig von einer geübten und nebenbei bemerkt wohlklingenden Stimme vorgelesen bekommen. Den Namen werden viele nicht kennen. Seine Stimme mag man aber schon im Fernsehen gehört haben, u.a. in Werbeclips. Doch diese Arbeit an den deutschen Gedichten ist ungleich verdienstvoller. Vielen Dank, Fritz Stavenhagen!

Empfehlen möchte ich zwei sehr unterschiedliche Gedichte, die mich heute aber beide sehr berühren. Die Zusammenhänge darf man selber erahnen.

Bitte weiter schmökern und lesen! Wir sollten alle viel mehr Gedichte lesen – und vortragen, proklamieren.

Links
deutschelyrik.de – die Startseite des Projekts Deutsche Lyrik
fritzstavenhagen.de – der Mann hinter dem Projekt (und vor dem Mikrophon)

Der Barbaratag

Heute ist der Namenstag der Hl. Barbara. Die Hl. Barbara lebte in Nikomedien in der heutigen Türkei zu Beginn des dritten Jahrhunderts. Sie war die schöne Tochter des wohlhabenden Kaufmanns Dioscuros. Dioscuros aber hütete seine Tochter wie einen Schatz. Er baute einen Turm mit nur zwei Fenstern und schloss Barbara dort ein. Vom Christentum erfuhr Barbara durch eine Magd, die sie auch in alle Glaubensgrundsätze einweihte. Als sie selbst Christin geworden war, ließ sie ein drittes Fenster in den Turm schlagen, um so die Dreifaltigkeit Gottes immer vor Augen zu haben. Als der Vater erfuhr, dass Barbara eine Christin geworden war, wollte er sie gleich erschlagen. Sie konnte aber fliehen, indem sich vor ihr ein Berg öffnete und sie aufnahm. Nachdem ihr Versteck allerdings verraten worden war, zeigte ihr Vater Dioscuros die Hl. Barbara beim Statthalter an. Nach langen Verhören und Folterungen wurde sie schließlich geköpft. Ihr Vater bat um die Ehre, seiner eigenen Tochter das Haupt abschlagen zu dürfen. Nach der Hinrichtung wurde er vom Blitz erschlagen. Die Hl. Barbara ist die Schutzpatronin der Bergleute.

Mit dem Barbaratag verbunden ist der Brauch der Barbarazweige. Wenn man am 4. Dezember Zweige von Obstbäumen oder der Forsythie schneidet und sie im Warmen in eine Vase stellt und wässert, blühen diese Zweige drei Wochen später zu Weihnachten. In den meisten Fällen funktioniert das mit erstaunlicher Präzision, auch wenn man in den ersten zwei Wochen ganz und gar nicht davon überzeugt sein mag. Diese Barbarazweige sollen ein Symbol des Wiedererwachens sein und uns Hoffnung geben. So wie durch die Geburt Jesu Christi auch in der Welt wieder Hoffnung herrscht. Wer das heute verpasst hat, kann es bestimmt auch morgen noch nachholen.

Schon in vorchristlicher Zeit hat man Zweige im Winter auf diese Art zum Blühen oder Grünen gebracht. Mit diesen Zweigen hat man Zuchttiere geschlagen, um die Kraft der dem Winter trotzenden Zweige auf die Tiere zu übertragen. Heute werden in manchen Regionen Deutschlands auf diese Art unverheiratete Mädchen von ihren Verehrern gepfeffert. Auch die Rute des Nikolaus könnte aus dieser Tradition stammen: das unartige Kind wird mit den Zweigen wieder brav geschlagen.

Der Maler und Dichter Max Dauthendey verfasste 1907 für sein Singsangbuch ein Gedicht über den Brauch der Barbarazweige, in dem allerdings das Erleben des Naturphänomens im Vordergrund steht:

Am Barbaratag im dürrsten Hag,
Langsam der Saft wieder steigen mag,
Glück schwebt schon draußen in kahlen Zweigen,
Hebt leise an Leises zu geigen:

Jetzt tut Dir noch jede Schneeflocke weh,
Doch die Hand, die heut, ach, am Sorgengarn spinnt,
Wohl Morgen schon Glocken zu läuten beginnt,
Und der Sinn wird ein hurtiges Reh.

Solange Du lebst, auch das Leben Dich mag,
Saft steigt in das Dürrholz am Barbaratag,
Saft steigt auch ins Glück wohl schon morgen,
Unsterblich sind nicht nur die Sorgen.