Archiv für den Monat: Februar 2017

Thinking Day und Todestage

Heute ist der Thinking Day. Seit 1932 feiern Pfadfinder weltweit den Geburtstag ihres Gründervaters Robert Stephenson Smyth Baden-Powell (22. Februar 1857). Heute ist also sein 160. Geburtstag. Roberts Frau Olave hat übrigens auch am 22. Februar Geburtstag. Nur nicht im selben Jahr. Sie war 32 Jahre jünger und starb, als ich bereits auf der Welt und schon vier Jahre alt war. Vor zehn Jahren wurde der Thinking Day größer angelegt. Neben dem 150. Geburtstag Baden-Powells gab es da noch das 100-jährige Bestehen der Pfadfinderbewegung zu feiern. Heute ist er wohl eher eine vereinsinterne Angelegenheit.

Heute vor 74 Jahren wurden Hans und Sophie Scholl gemeinsam mit Christoph Probst in München hingerichtet. Sie bildeten die studentische Widerstandsgruppe Weiße Rose. Ein Satz von Sophie Scholl hat sich mir besonders eingeprägt: Man muss etwas machen, um selbst keine Schuld zu haben. Dazu brauchen wir einen harten Geist und ein weiches Herz. Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur suchen wir sie zu wenig.

Die Hauptsache meines heutigen Blogeintrags ist aber eine Top-Five-Liste runder Todestage in zeitlicher Reihenfolge:

  • Heute vor 220 Jahren starb Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen (1720–1797), der als Lügenbaron in den Texten von Gottfried August Bürger weiterlebt, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht und auf Kanonenkugeln reitet.
  • Vor 30 Jahren starb eine ähnlich schillernde Persönlichkeit. Andy Warhol (1928–1987). Ich war bereits 14 Jahre alt blieb aber damals vom Tod des großen Pop-Artisten unbeeindruckt. Heute weiß ich um den des Werkes, das die Digitalisierung traumwandlerisch vorwegnahm.
  • Vor 15 Jahren starb der Zeichner, Regisseur und Drehbuchautor Chuck Jones (1912–2002). Den Namen kennt wohl kaum einer. Seine Looney Tunes kennt fast jeder. Zahlreiche Oscarnominierungen erhielt Jones für seine Arbeiten. Dreimal gewann er den Oscar. Ein vierter kam für sein Lebenswerk hinzu.
  • Vor 10 Jahren starb Lothar-Günther Buchheim (1918–2007). Er war Maler, Fotograf, Filmemacher, Autor und Verleger. In Erinnerung bleibt er uns für den Roman Das Boot, der in meinem Geburtsjahr 1973 herauskam. Aber wer liest schon so einen Schinken? 1981 verfilmte Wolfgang Petersen den Roman mit Jürgen Prochnow, Herbert Grönemeyer und vielen anderen bekannten Schauspielern.
  • Vor 5 Jahren starben die US-amerikanische Journalistin Marie Colvin (1956–2012) und der französische Fotograf Rémi Ochlik (1983–2012) bei einem Artillerieangriff im syrischen Homs. Der Bürgerkrieg in Syrien hat zigtausende unschuldige Opfer gefordert. Diese beiden stehen für Menschen aus unserem Umfeld. Dadurch rückt das Geschehen näher an uns heran.

Geburtstag von W. H. Auden

Am 21. Februar 1907, heute vor 110 Jahren, wurde Wystan Hugh Auden im englischen York geboren. Auch wenn Auden heute dem durchschnittlich gymnasial Gebildeten kaum bis gar nichts sagt, sind sein Leben und Schaffen auch mit Deutschland verbunden. 1929 lebte er mit seinem Partner Christopher Isherwood in Berlin. Isherwood schrieb mit Goodbye to Berlin die Vorlage für Cabaret und später das traurige Alterswerk A Single Man, 2009 von Tom Ford mit Colin Firth in der Hauptrolle kongenial umgesetzt. W. H. Auden schrieb viele Libretti, u.a. für Benjamin Britten. Auch Leonard Bernstein ließ sich von Texten Audens inspirieren. 1948 erhielt er den Pulitzer-Preis für seinen Dialog in Versen: The Age of Anxiety.

1935 heiratete er Erika Mann, die älteste Tochter Thomas Manns, um ihr zur britischen Staatsbürgerschaft zu verhelfen. Die Mann-Familie war von den Nazis ausgebürgert worden. 1939 zog er nach New York; sieben Jahre später wurde er amerikanischer Staatsbürger. Seinen Lebensabend verbrachte Auden in Österreich. Er starb in Wien in meinem Geburtsjahr 1973.

Aus dem Jahre 1939 stammt der Refugee Blues, der noch vor Kriegsbeginn die Situation der aus Deutschland Geflüchteten beschreibt. Ob mit der Stadt der zehn Millionen Seelen noch London oder bereits New York gemeint ist, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Greater London hatte in den 30er Jahren bereits 8 Millionen Einwohner, New York City erst 7 Millionen. Einige Stellen beziehen sich sehr konkret auf die Situation Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Erschreckend für mich ist jedoch, dass dieser Refugee Blues auch heute wieder gesungen werden kann. If we let them in, they will steal our daily bread … Lasst uns doch endlich menschlicher miteinander umgehen!

Refugee Blues

Say this city has ten million souls,
Some are living in mansions, some are living in holes:
Yet there’s no place for us, my dear, yet there’s no place for us.

Once we had a country and we thought it fair,
Look in the atlas and you’ll find it there:
We cannot go there now, my dear, we cannot go there now.

In the village churchyard there grows an old yew,
Every spring it blossoms anew;
Old passports can’t do that, my dear, old passports can’t do that.

The consul banged the table and said:
‚If you’ve got no passport, you’re officially dead‘;
But we are still alive, my dear, but we are still alive.

Went to a committee; they offered me a chair;
Asked me politely to return next year:
But where shall we go today, my dear, but where shall we go today?

Came to a public meeting; the speaker got up and said:
‚If we let them in, they will steal our daily bread‘;
He was talking of you and me, my dear, he was talking of you and me.

Thought I heard the thunder rumbling in the sky;
It was Hitler over Europe, saying: ‚They must die‘;
We were in his mind, my dear, we were in his mind.

Saw a poodle in a jacket fastened with a pin,
Saw a door opened and a cat let in:
But they weren’t German Jews, my dear, but they weren’t German Jews.

Went down the harbour and stood upon the quay,
Saw the fish swimming as if they were free:
Only ten feet away, my dear, only ten feet away.

Walked through a wood, saw the birds in the trees;
They had no politicians and sang at their ease:
They weren’t the human race, my dear, they weren’t the human race.

Dreamed I saw a building with a thousand floors,
A thousand windows and a thousand doors;
Not one of them was ours, my dear, not one of them was ours.

Stood on a great plain in the falling snow;
Ten thousand soldiers marched to and fro:
Looking for you and me, my dear, looking for you and me.

Der Text ist im Stil eines klassischen Blues geschrieben. Da liegt es natürlich nahe, den Text auch zur Gitarre zu singen. Ich habe es selbst gerade probiert, erspare euch aber eine Aufnahme davon. Auf YouTube findet man einige Versionen. Teilen möchte ich eine Dub-Version, die sich direkt auf die heutige Situation von Geflüchteten bezieht.

Aus aktuellem Anlass noch einmal der Link zu einem anderen Blog-Eintrag mit der Bitte um Beteiligung:
http://zweitgeborener.de/2016/12/keine-abschiebungen-nach-afghanistan/

Nikolaus Kopernikus, all die anderen und ich

Heute vor 544 Jahren, am 19. Februar 1473 wurde Nikolaus Kopernikus geboren. Das ist vielleicht kein besonders rundes Jubiläum, zeigt aber, dass der Mathematiker und Astronom genau 500 Jahre vor mir geboren wurde. Zur Zeit des lutherischen Thesenanschlags in Wittenberg war Kopernikus so alt, wie ich in vier Tagen werde – 44.

Nur im kleinen Kreise kirchlicher Würdenträger war sein bahnbrechendes Werk De hypothesibus motuum coelestium commentariolus aus dem Jahre 1514 bekannt. Die Bahnen der Planeten selbst auch noch kreis- und nicht ellipsenförmig gedacht. Die Lutherische Reformation war noch drei Jahre entfernt. Bekannter wurden die Ideen Kopernikus‘ durch den Druck seines Hauptwerkes De revolutionibus orbium coelestium libri VI in seinem Todesjahr 1543. Verantwortlich dafür zeichnet der Wittenberger Mathematiker Georg Joachim Rheticus, der am 16. Februar 1514 geboren wurde. Ebenfalls an einem 16. Februar, allerdings bereits 1497, wurde Philipp Melanchthon geboren, der nicht nur eine weitere Verbindung zu Wittenberg und Reformation darstellt. Er war auch ein scharfer Kritiker des kopernikanischen Weltbildes. Aus der Bibel zitierte er (Kohelet 1, 4–5):

Eine Generation geht, die andere kommt. Die Erde steht in Ewigkeit.
Die Sonne, die aufging und wieder unterging,
atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht.

Und Martin Luther selbst bewies mit seiner Kritik ebenfalls, dass er alles nur kein Mathematiker oder Astronom war. Ein leerer Schwätzer war der am 18. Februar 1546 verstorbene Reformator aber nicht! Da ging Kopernikus mit seinem Vorwurf i Vorwort etwas weit, als er schrieb:

Sollten etwa leere Schwätzer, die allen mathematischen Wissens bar sind, sich dennoch ein Urteil anmaßen und durch absichtliche Verdrehung irgendeiner Stelle der Heiligen Schrift dieses mein Werk zu tadeln oder anzugreifen wagen, so werde ich mich nicht um sie kümmern, sondern ihr Urteil als unbesonnen missachten.

Verboten wurden die Schriften Nikolaus Kopernikus‘ erst 99 Jahre nach Luthers Thesenanschlag, nämlich 1616 im Zuge des Prozesses um den fest für die Idee der sich bewegenden Erde kämpfenden Galileo Galilei, der wiederum am 15. Februar 1564 in Pisa geboren wurde.

Goethe, Papa Heuss und die Verfassung der Türkei

Vor genau 80 Jahren, am 5. Februar 1937 wurde die erst 14 Jahre alte Verfassung der Türkei geändert, um in Artikel 2 die sechs Pfeile genannten Grundsätze des Kemalismus aufzunehmen. Von Mustafa Kemal Pascha, genannt Atatürk (Vater der Türkei) gehen diese Pfeile aus. Der Artikel 2 der Türkischen Verfassung lautete nun:

Das Türkische Reich ist republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, interventionistisch, laizistisch und revolutionär. Seine Amtssprache ist türkisch. Seine Hauptstadt ist die Stadt Ankara.

Die sechs Pfeile bedürfen wohl einer Erklärung:

  • Republikanisch – Cumhuriyetçi – Die Monarchie in Form von Sultanat oder Kalifat waren abgeschafft. Dies erste Wort der Auflistung ist den Staaten Europas allgemein vertraut.
  • Nationalistisch – Milliyetçi – Das Osmanische Reich war ein Vielvölkerstaat. Nun sollte mit einer neuen Schrift und einer Sprache ein Nationalstaat mit einem neuen Bewusstsein entstehen. „Glücklich derjenige, der sich als Türke bezeichnet“, sagt Atatürk und meint, dass jeder Türke werden könne, wenn er sich Türke nenne und an die türkischen Gesetze halte. Kurden und Armenier sehen diesen Punkt skeptisch.
  • Volksverbunden – Halkçı – Gern auch übersetzt mit populistisch, allerdings nicht im heutigen Sinne zu verstehen. Gemeint ist die Aufhebung von Klassenunterschieden und die Gleichstellung von Mann und Frau. Um diese zu gewährleisten, hatte die Türkei schon früh ein Kopftuchverbot. Das Wissen darüber ist heute in Europa nicht weit verbreitet.
  • Interventionistisch – Devletçi – Die Form des staatlichen Eingreifens in die Wirtschaft wird auch Etatismus genannt. Sie erinnert in manchen Zügen an die sozialistische Planwirtschaft. Es ging um das Bemühen, aus einem Agrarland einen modernen Industriestaat zu formen.
  • Laizistisch – Laik – Die Trennung von Staat und Kirche ist ein erklärtes Ideal der europäischen Staaten. Innerhalb der EU haben dies allerdings nur Frankreich, Tschechien und Portugal konsequent in ihrer Verfassung verankert. Auch in Deutschland gibt es Hintertürchen, welche die einen für bedenklich und die anderen für erfreulich halten. In der Türkei hat der Laizismus dazu geführt, dass die Moscheen nicht mehr den Staat mitlenken, sondern andersherum der Staat in die Moscheen hineinregiert, was auch nicht unbedingt das Ziel sein kann.
  • Revolutionär – Devrimcidir –Der Begriff zielt auf die Herausforderungen, die noch zu meistern waren bzw. bis noch sind. Die Türkei begriff sich seinerzeit als ein Land im Wandel. Diese Aufbruchstimmung kennt man sonst nur aus den sozialistischen Staaten.

Die Geschichte der Türkei ist wechselhaft. Zweimal griff das Militär nachhaltig ein. Heute lautet Artikel 2 der Türkischen Verfassung:

Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.

Aber was geht uns die Türkei und ihre verschiedenen Verfassungen an, von denen die aktuelle wahrscheinlich bald wieder umgeschrieben sein wird? Immerhin verbindet Deutschland mit der Türkei eine ganze Menge. Deutsche Linguisten entwickelten die türkische Schriftsprache mit Lateinischen Buchstaben. Türkische Gastarbeiter leben seit Jahrzehnten in Deutschland und fühlen sich mal türkisch, mal deutsch, mal deutsch-türkisch und manchmal leider auch überall fremd. Der große Goethe nahm im Faust die Türkei als Bild für weit entferntes Leid, als zwei Bürger kurz vor dem berühmten Osterspaziergangsmonolog zueinander sprechen:

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried und Friedenszeiten.

Herr Nachbar, ja! so laß ich’s auch geschehn:
Sie mögen sich die Köpfe spalten,
Mag alles durcheinander gehn;
Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.

Nun kann man in einem deutschen Text immer mal Goethe zitieren, auch ohne das weiter begründen zu müssen. Die Passage passt ja auch ausgezeichnet zum Jubiläum der Verfassungsänderung inkl. zukünftiger Veränderungen und dem Krieg dies- und jenseits der südöstlichen Grenzen der Türkei. Goethe passt hier besonders, weil man ihm nachsagt, selbst ein Produkt gelungener Integration zu sein. Überspitzt könnte man sagen: Goethe war vielleicht ein Deutsch-Türke.

Die Geschichte beginnt mit dem Soldaten Mehmet Sadık Selim Sultan (1270–1328), der sich 1305 in Brackenheim in der Johanniskirche taufen ließ, wo er auch bestattet wurde. Unter dem Namen Johann Soldan gilt als der erste türkisch-stämmige Deutsche. Nun liegen zwischen der Taufe Soldans und Goethes Geburt glatte 444 Jahre, aus denen überlieferte Aufzeichnungen lückenhaft sind. Daher wird es wohl nie Gewissheit darüber geben. Mir gefällt aber die Idee.

Vor allem in arabischen Ländern gibt es ein weiteres Bonmot über den Dichterfürsten. Heimlich ein Muslim soll er gewesen sein. Tatsächlich fast der Ehrenpräsident der Goethe-Gesellschaft Werner Keller 2013 zusammen: Die Kreuzessymbolik war für Goethe ein Ärgernis, die Lehre von der Erbsünde eine Entwürdigung der Schöpfung, Jesu Vergottung in der Trinität eine Blasphemie des einen Gottes. (Goethe-Jahrbuch, Band 130) Das hat Goethe mit der Mehrheit der Muslime gemeinsam. Doch gerade im West-Östlichen Diwan sagt er, Mohammed habe seinem Stamme eine düstere Religionshülle übergeworfen. Goethes Blick auf Wein, Weib und Gesang war kein muslimischer. Und dieser Dreiklang ist an eben dieser Stelle nicht trivial.

Aus Brackenheim stammt aber nicht nur der erste urkundlich gesicherte Deutsch-Türke und vermutete Goethe-Ahn. Ein wichtiger Sohn der Stadt ist Theodor Heuss, der als erster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland das Väterliche seines Amtes in den Kosenamen gelegt bekommen hat: Papa Heuss. Damit schließt sich fast der Kreis zu Atatürks Verfassung und der heute vor 80 Jahren durchgeführten Verfassungsänderung.

Papa Heuss sagte 1956 in seiner Rede an die Jugend: Das Wesen des Abendlandes lässt sich bildhaft damit beschreiben, dass es auf drei Hügeln ruht: Akropolis, Kapitol und Golgatha. In Deutschland herrscht Religionsfreiheit. Aber in der Präambel des Grundgesetzes gibt es den Gottesbezug. Laizistisch ist die Bundesrepublik Deutschland nicht.

Links
http://www.verfassungen.eu/tr/tuerkei24-index.htm – deutsche Übersetzung der Verfassung um 1937
http://www.verfassungen.eu/tr/tuerkei82.htm – deutsche Übersetzung der aktuellen Verfassung
http://gutenberg.spiegel.de/buch/faust-eine-tragodie-3664/1 – Faust I im Projekt Gutenberg

Vom Neandertaler bis heute

Vor genau 160 Jahren, am 4. Februar 1857 stellte der Mediziner und Anthropologe Hermann Schaaffhausen (1816–1893) den Herren der niederrheinischen Gesellschaft für Natur- und Heilkunde in Bonn seinen Knochenfund aus dem von der Düssel durchflossenen Neandertal vor. An einen voreiszeitlichen Menschen hatte er dabei nicht gedacht. Auch andere Größen seiner Zeit wie Rudolf Virchow sahen in den Knochen eher die Überreste eines Rachitis-Kranken. Die Spekulationen über den Neandertaler reichten von einem berittenen russischen Kosaken im Kampf gegen Napoleon bis hin zu einem Hunnen aus dem Heerbann Attilas. Charles Darwins Werk On the Origin of Species erschien erst am 24. November 1859.

Aber haben wir uns seit den Zeiten des Neandertalers, der vor 30.000 Jahren ausstarb, wirklich weiterentwickelt? Von Menschenkennern wie Erich Kästner wird dies stark bezweifelt. Heute wissen wir sogar, dass Gene des Neandertalers in uns weiterleben. Kästner hat übrigens genau einen Tag vor mir Geburtstag. Hier nun sein Gedicht: Die Entwicklung der Menschheit.

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,
in zentralgeheizten Räumen.
Da sitzen sie nun am Telefon.
Und es herrscht noch genau derselbe Ton
wie seinerzeit auf den Bäumen.

Sie hören weit. Sie sehen fern.
Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.
Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.
Die Erde ist ein gebildeter Stern
mit sehr viel Wasserspülung.

Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.
Sie jagen und züchten Mikroben.
Sie versehn die Natur mit allem Komfort.
Sie fliegen steil in den Himmel empor
und bleiben zwei Wochen oben.

Was ihre Verdauung übriglässt,
das verarbeiten sie zu Watte.
Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.
Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,
daß Cäsar Plattfüße hatte.

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
Den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.

Das Ende der Tulpenhysterie

Aus dem südöstlichen Mittelmeerraum stammt die Tulpe. Von Afghanistan bis zur Türkei reicht die Heimat dieses Liliengewächses. Der Name stammt aus dem Persischen und bezeichnet den bunten Stoff , aus dem ein Turban gewickelt wird. Die etymologische Nähe von Tulpe zu Turban ist heute noch ersichtlich. Mitte des 16. Jahrhunderts kam die Tulpe aus der Türkei nach Mitteleuropa. Schnell wurde sie eine beliebte Blume in den Kreisen des Adels und wohlhabender Händler. Besonders in den Niederlanden wurden die Tulpenzwiebeln zu einem begehrten Spekulationsobjekt.

Am 3. Februar 1637 erzielten bei einer Auktion im niederländischen Alkmaar keine der angebotenen Tulpenzwiebeln ihren vorher erwarteten Verkaufspreis. Das war der Anfang vom Ende der Tulpenhysterie, der legendären ersten Spekulationsblase in der Geschichte des Börsenhandels. Das Ende der Krise war erreicht, als in den Städten der Niederlande gesetzliche Regelungen getroffen wurden für die Annullierung der Kaufverträge. Für Amsterdam war das am 24. Februar 1637.

Im Jahre 1841 schrieb Charles Mackay (1814–1889) seine Memoirs of Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds. Mackays Beschreibung der Tulpenhysterie wird heute kritisch gesehen. Sicherlich kann man die Tulpenhysterie nicht isoliert betrachten, ereignete sie sich doch mitten im Dreißigjährigen Krieg. Zur Finanzkrise von 2007 wurden Berichte über die Tulpenhysterie wieder beliebt. In Oliver Stones Film Wall Street: Geld schläft nicht von 2010 wird sie für eine bildhafte Erklärung herangezogen.

Der englische Dichter Abraham Cowley (1618–1667) war ein Zeitgenosse der Tulpenhysterie. Wenn er auch kein Spekulant war, kann man seinen Werken die Faszination an der persischen Blume entnehmen.

The Tulip next appear’d, all over gay,
But wanton, full of pride, and full of play;
The world can’t shew a Dye, but here has place,
Nay by new mixtures she can change her face.
Purple and Gold are both beneath her care,
The richest Needlework she loves to wear;
Her onely study is to please the Eye,
And to outshine the rest in Finery.
Oft of a Mode or Colour weary grown
By which their Family had long been known,
They’ll change their fashion strait, I know not how,
And with much pain in other Colours go;
As if Medea’s Furnace they had past;
(She without Plants old Æson ne’r new-cast)
And though they know this change will mortal prove
They’ll venture yet — to change so much they love.
Such love to Beauty, such the thirst of praise,
That welcome Death before inglorious days!
The cause by all was to the white assign’d,
Whether because the rarest of the kind,
Or else because every Petitioner
In antient times, for Office, white did wear.
SOmewhere in Horace, if I don’t forget,
(Flowers are no foes to Poetry and Wit;
For us that Tribe the like affection bear,
And of all Men the greatest Florists are)
We find a wealthy man
Whose Ward-robe did five thousand Suits contain;
He counted that a vast prodigious store,
But I that number have twice told and more.
Whate’r in Spring the teeming Earth commands;
What Colours e’r the painted pride of Birds,
Or various Lights the glistering Gem affords
Cut by the artful Lapidary’s hands;
Whate’r the Curtains of the Heavens can show,
Or Light lays Dyes upon the varnish’d Bow,
Rob’d in as many Vests I shine,
In every thing bearing a Princely Mien.
Pity I must the Lily and the Rose
(And the last blushes at her threadbare Clothes)
Who think themselves so highly blest,
Yet have but one poor tatter’d Vest.
These studious, unambitious things, in brief,
Wou’d fit extreamly well a College-life,
And when the God of Flowers a Charter grants
Admission shall be given to these Plants;
Kings shou’d have plenty, and superfluous store,
Whilst thriftiness becomes the poor.
Hence Spring himself does chiefly me regard:
Will any Flower refuse to stand to his award?
Me for whole Months he does retain
And keeps me by him all his Reign;
Caress’d by Spring, the season of the year,
Which before all to Love is dear.
Besides; the God of Love himself’s my friend,
Not for my Face alone; but for another end.
Lov’d by the God upon a private score,
I know for what — but say no more;
But why shou’d I,
Become so silent or so shy?
We Flow’rs were by no peevish Sire begot,
Nor from that frigid, sullen Tree did sprout,
So famed in Ceres sacred Rites;
Nor in moroseness Flora’s self delights.

Links
http://cowley.lib.virginia.edu/works/Bk3.htm – Of Plants, Book III von Abraham Cowley bei University of Virginia
http://www.gutenberg.org/ebooks/24518Memoirs of Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds von Charles Mackay als E-Book bei Gutenberg

Geburts- und Todestag von Ludwig Eichrodt

Heute ist der letzte Feiertag mit direktem Weihnachtsbezug. Obwohl für die meisten Weihnachten schon lange zurückliegt, ist erst mit diesem 40 Tage vom 25.12. entfernten Feiertag namens Mariä Lichtmess die Geburt eines erstgeborenen Sohnes abgeschlossen. Die Mutter ist nun wieder kultisch rein und der Sohn wird im Tempel symbolisch ausgelöst. Die Erstgeburt jeden Nutztieres wird Gott geopfert. Menschenopfer gibt es seit Abraham und Isaak nicht mehr.

Geburt und Tod liegen auch beim Dichter Ludwig Eichrodt nah beieinander. Heute jährt sich sein Geburtstag zum 190. Mal; und sein Todestag ist vor genau 125 Jahren gewesen. Eichrodt schuf 1853 gemeinsam mit dem Arzt Alfred Kußmaul die Kunstfigur des Weiland Gottlieb Biedermeier, eines selbstzufriedenen schwäbischen Dorfschullehrers, dem er einen Teil seiner Gedichte zuschrieb. Dieser Biedermeier gab der Epoche ihren Namen.

Aus dem Buch Biedermaier stammt auch folgendes Gedicht zum runden 70. Geburtstag des Heteronyms. Eichrodt selbst wurde – ganz braver Beamter – genau 65 Jahre alt.

An meinem 70sten Geburtstage

Vor fünfundzwanzigtausend und
Fünfhundertfünfzig Tagen stund
Ich ziemlich in Gefahr,
Denn schwer ward ich zur Welt gebracht,
Doch hat’s den Eltern Freud‘ gemacht,
Daß ich ein Büblein war.

Ja siebzig Jahre sind es schon,
Daß meiner Frau, der Appollon‘,
Nichts ahnte von dem Glück.*
Wie bitter hat mich nun gemahnt,
Seit ich zum erstenmal gezahnt,
Des Lebens Ungeschick!

Und doch, obschon ein Siebziger,
Bin ich ein Mensch ein glücklicher:
Kaum einmal war ich krank.
Zwar unberufen sag‘ ich’s nur,
Es denkt mir nicht, daß ich Mixtur
Aus meinem Glase trank.

Vonnöthen hab‘ ich keine Krück‘,
Und keine Brille für den Blick,
Ich hör‘ und schmecke gut;
Was schreib‘ ich eine feste Hand!
Gottlob es ist mir unbekannt
Das Zipperlein, wie’s thut.

Nur geht es mir wie jedem Greis,
Daß mir die Zähne reihenweis
Ausfallen kreuz und quer;
Doch tröstet mich der Umstand auch
Daß ich jetzt nicht zu beißen brauch‘
In saure Aepfel mehr.

Und wird auch mein Gedächtniß schwach,
Daß ich oft letze Sachen mach‘,
So weiß ich doch noch scharf,
Zu unterscheiden Bös und Gut,
Und was ein Christenmensch voll Muth
Zur Seligkeit bedarf.

Ja loben muß ich Gott darum,
Daß er so alt und doch nicht dumm
Mich zeitlich werden läßt.
Ein unzufried’ner Jubilar?
Er wäre ja ganz undankbar
Für ein so selt’nes Fest!

Fußnoten

* Bei meiner Geburt war nämlich meine nunmehr selige Frau ein fünfjähriges Kind.

Beginn der Geburtstagswochen

Was meinen Geburtstag angeht, bin ich ein Kind geblieben. Der Satz klingt etwas eigenartig, entferne ich mich doch gerade mit steigender Zahl an Geburtstagen von meiner Kindheit. Geblieben ist mir die Spannung auf diesen Tag hin, obwohl ich im Erwachsenenalter keine großen Überraschungsgeschenke erwarte. Es ist eine Art individueller Adventszeit, vielleicht weil mein Geburtstag auf den Vierundzwanzigsten fällt. Es sind für mich die Geburtstagswochen. Die möchte ich heute einläuten mit einer Top-Five-Liste von besonderen Jahrestagen des 1. Februar 2017, in denen sich auch die aktuelle Lage der Welt spiegeln soll:

  • 1892, vor 125 Jahren, gelangen dem Astronomen Martin Brendel gemeinsam mit dem Geografen Otto Baschin am Altafjord in Norwegen die ersten bekannten Fotografien des Nordlichts.
  • 1917, vor 100 Jahren, eröffnete die deutsche Marine im Ersten Weltkrieg den uneingeschränkten U-Boot-Krieg um Großbritannien und Frankreich, sowie im Mittelmeerraum. Das Kriegsglück drehte sich nicht. Die deutsche Jugend zwischen den Kriegen erhielt neue Helden.
  • 1942, vor 75 Jahren, ging der US-amerikanische Auslandssender Voice of America von Großbritannien in deutscher Sprache zum ersten Mal auf Sendung, um den Propaganda geplagten Deutschen die Wahrheit über den Krieg und die Naziverbrechen zu verkünden.
  • 1957, vor 60 Jahren, lief der von Felix Wankel entwickelte und später nach ihm benannte Drehkolbenmotor DKM54 auf dem Prüfstand der NSU zum ersten Mal. 1960 wurde der Wankelmotor mit dem NSU Prinz III erstmals in einem Pkw verbaut.
  • 2012, vor 5 Jahren, starb die polnische Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska. Eines ihrer bekanntesten Gedichte heißt Kot w pustym mieszkaniu (Katze in der leeren Wohnung) und erschien vor 25 Jahren in deutscher Sprache. Der Übersetzer Karl Dedecius verstarb übrigens 2016, ebenfalls im Februar.

Katze in der leeren Wohnung

Sterben – das tut man einer Katze nicht an,
Denn was soll die Katze
in einer leeren Wohnung.
An den Wänden hoch,
sich an Möbeln reiben.
Nichts scheint sich hier verändert zu haben,
und doch ist alles anders.
Nichts verstellt, so scheint es,
und doch alles verschoben.
Am Abend brennt die Lampe nicht mehr.

Auf der Treppe sind Schritte zu hören,
aber nicht die.
Die Hand, die den Fisch auf den Teller legt,
ist auch nicht die, die es früher tat.

Hier beginnt etwas nicht
zur gewohnten Zeit.
Etwas findet nicht statt,
wie es sich gehört hätte.
Jemand war hier und war,
dann verschwand er plötzlich
und ist beharrlich nicht da.

Alle Schränke durchforscht.
Alle Regale durchlaufen.
Unter Teppichen geprüft.
Trotz des Verbots
die Papiere durchstöbert.
Was bleibt da noch zu tun.
Schlafen und warten.

Komme er nur,
zeige er sich.
Er wird’s schon erfahren.
Einer Katze tut man sowas nicht an.
Sie wird ihm entgegenstolzieren,
so, als wollte sie’s nicht,
sehr langsam,
auf äußerst beleidigten Pfoten.
Noch ohne Sprung, ohne Miau.