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Geburtstag von W. H. Auden

Am 21. Februar 1907, heute vor 110 Jahren, wurde Wystan Hugh Auden im englischen York geboren. Auch wenn Auden heute dem durchschnittlich gymnasial Gebildeten kaum bis gar nichts sagt, sind sein Leben und Schaffen auch mit Deutschland verbunden. 1929 lebte er mit seinem Partner Christopher Isherwood in Berlin. Isherwood schrieb mit Goodbye to Berlin die Vorlage für Cabaret und später das traurige Alterswerk A Single Man, 2009 von Tom Ford mit Colin Firth in der Hauptrolle kongenial umgesetzt. W. H. Auden schrieb viele Libretti, u.a. für Benjamin Britten. Auch Leonard Bernstein ließ sich von Texten Audens inspirieren. 1948 erhielt er den Pulitzer-Preis für seinen Dialog in Versen: The Age of Anxiety.

1935 heiratete er Erika Mann, die älteste Tochter Thomas Manns, um ihr zur britischen Staatsbürgerschaft zu verhelfen. Die Mann-Familie war von den Nazis ausgebürgert worden. 1939 zog er nach New York; sieben Jahre später wurde er amerikanischer Staatsbürger. Seinen Lebensabend verbrachte Auden in Österreich. Er starb in Wien in meinem Geburtsjahr 1973.

Aus dem Jahre 1939 stammt der Refugee Blues, der noch vor Kriegsbeginn die Situation der aus Deutschland Geflüchteten beschreibt. Ob mit der Stadt der zehn Millionen Seelen noch London oder bereits New York gemeint ist, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Greater London hatte in den 30er Jahren bereits 8 Millionen Einwohner, New York City erst 7 Millionen. Einige Stellen beziehen sich sehr konkret auf die Situation Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Erschreckend für mich ist jedoch, dass dieser Refugee Blues auch heute wieder gesungen werden kann. If we let them in, they will steal our daily bread … Lasst uns doch endlich menschlicher miteinander umgehen!

Refugee Blues

Say this city has ten million souls,
Some are living in mansions, some are living in holes:
Yet there’s no place for us, my dear, yet there’s no place for us.

Once we had a country and we thought it fair,
Look in the atlas and you’ll find it there:
We cannot go there now, my dear, we cannot go there now.

In the village churchyard there grows an old yew,
Every spring it blossoms anew;
Old passports can’t do that, my dear, old passports can’t do that.

The consul banged the table and said:
‚If you’ve got no passport, you’re officially dead‘;
But we are still alive, my dear, but we are still alive.

Went to a committee; they offered me a chair;
Asked me politely to return next year:
But where shall we go today, my dear, but where shall we go today?

Came to a public meeting; the speaker got up and said:
‚If we let them in, they will steal our daily bread‘;
He was talking of you and me, my dear, he was talking of you and me.

Thought I heard the thunder rumbling in the sky;
It was Hitler over Europe, saying: ‚They must die‘;
We were in his mind, my dear, we were in his mind.

Saw a poodle in a jacket fastened with a pin,
Saw a door opened and a cat let in:
But they weren’t German Jews, my dear, but they weren’t German Jews.

Went down the harbour and stood upon the quay,
Saw the fish swimming as if they were free:
Only ten feet away, my dear, only ten feet away.

Walked through a wood, saw the birds in the trees;
They had no politicians and sang at their ease:
They weren’t the human race, my dear, they weren’t the human race.

Dreamed I saw a building with a thousand floors,
A thousand windows and a thousand doors;
Not one of them was ours, my dear, not one of them was ours.

Stood on a great plain in the falling snow;
Ten thousand soldiers marched to and fro:
Looking for you and me, my dear, looking for you and me.

Der Text ist im Stil eines klassischen Blues geschrieben. Da liegt es natürlich nahe, den Text auch zur Gitarre zu singen. Ich habe es selbst gerade probiert, erspare euch aber eine Aufnahme davon. Auf YouTube findet man einige Versionen. Teilen möchte ich eine Dub-Version, die sich direkt auf die heutige Situation von Geflüchteten bezieht.

Aus aktuellem Anlass noch einmal der Link zu einem anderen Blog-Eintrag mit der Bitte um Beteiligung:
http://zweitgeborener.de/2016/12/keine-abschiebungen-nach-afghanistan/

Vom Neandertaler bis heute

Vor genau 160 Jahren, am 4. Februar 1857 stellte der Mediziner und Anthropologe Hermann Schaaffhausen (1816–1893) den Herren der niederrheinischen Gesellschaft für Natur- und Heilkunde in Bonn seinen Knochenfund aus dem von der Düssel durchflossenen Neandertal vor. An einen voreiszeitlichen Menschen hatte er dabei nicht gedacht. Auch andere Größen seiner Zeit wie Rudolf Virchow sahen in den Knochen eher die Überreste eines Rachitis-Kranken. Die Spekulationen über den Neandertaler reichten von einem berittenen russischen Kosaken im Kampf gegen Napoleon bis hin zu einem Hunnen aus dem Heerbann Attilas. Charles Darwins Werk On the Origin of Species erschien erst am 24. November 1859.

Aber haben wir uns seit den Zeiten des Neandertalers, der vor 30.000 Jahren ausstarb, wirklich weiterentwickelt? Von Menschenkennern wie Erich Kästner wird dies stark bezweifelt. Heute wissen wir sogar, dass Gene des Neandertalers in uns weiterleben. Kästner hat übrigens genau einen Tag vor mir Geburtstag. Hier nun sein Gedicht: Die Entwicklung der Menschheit.

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,
in zentralgeheizten Räumen.
Da sitzen sie nun am Telefon.
Und es herrscht noch genau derselbe Ton
wie seinerzeit auf den Bäumen.

Sie hören weit. Sie sehen fern.
Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.
Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.
Die Erde ist ein gebildeter Stern
mit sehr viel Wasserspülung.

Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.
Sie jagen und züchten Mikroben.
Sie versehn die Natur mit allem Komfort.
Sie fliegen steil in den Himmel empor
und bleiben zwei Wochen oben.

Was ihre Verdauung übriglässt,
das verarbeiten sie zu Watte.
Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.
Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,
daß Cäsar Plattfüße hatte.

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
Den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.

Das Ende der Tulpenhysterie

Aus dem südöstlichen Mittelmeerraum stammt die Tulpe. Von Afghanistan bis zur Türkei reicht die Heimat dieses Liliengewächses. Der Name stammt aus dem Persischen und bezeichnet den bunten Stoff , aus dem ein Turban gewickelt wird. Die etymologische Nähe von Tulpe zu Turban ist heute noch ersichtlich. Mitte des 16. Jahrhunderts kam die Tulpe aus der Türkei nach Mitteleuropa. Schnell wurde sie eine beliebte Blume in den Kreisen des Adels und wohlhabender Händler. Besonders in den Niederlanden wurden die Tulpenzwiebeln zu einem begehrten Spekulationsobjekt.

Am 3. Februar 1637 erzielten bei einer Auktion im niederländischen Alkmaar keine der angebotenen Tulpenzwiebeln ihren vorher erwarteten Verkaufspreis. Das war der Anfang vom Ende der Tulpenhysterie, der legendären ersten Spekulationsblase in der Geschichte des Börsenhandels. Das Ende der Krise war erreicht, als in den Städten der Niederlande gesetzliche Regelungen getroffen wurden für die Annullierung der Kaufverträge. Für Amsterdam war das am 24. Februar 1637.

Im Jahre 1841 schrieb Charles Mackay (1814–1889) seine Memoirs of Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds. Mackays Beschreibung der Tulpenhysterie wird heute kritisch gesehen. Sicherlich kann man die Tulpenhysterie nicht isoliert betrachten, ereignete sie sich doch mitten im Dreißigjährigen Krieg. Zur Finanzkrise von 2007 wurden Berichte über die Tulpenhysterie wieder beliebt. In Oliver Stones Film Wall Street: Geld schläft nicht von 2010 wird sie für eine bildhafte Erklärung herangezogen.

Der englische Dichter Abraham Cowley (1618–1667) war ein Zeitgenosse der Tulpenhysterie. Wenn er auch kein Spekulant war, kann man seinen Werken die Faszination an der persischen Blume entnehmen.

The Tulip next appear’d, all over gay,
But wanton, full of pride, and full of play;
The world can’t shew a Dye, but here has place,
Nay by new mixtures she can change her face.
Purple and Gold are both beneath her care,
The richest Needlework she loves to wear;
Her onely study is to please the Eye,
And to outshine the rest in Finery.
Oft of a Mode or Colour weary grown
By which their Family had long been known,
They’ll change their fashion strait, I know not how,
And with much pain in other Colours go;
As if Medea’s Furnace they had past;
(She without Plants old Æson ne’r new-cast)
And though they know this change will mortal prove
They’ll venture yet — to change so much they love.
Such love to Beauty, such the thirst of praise,
That welcome Death before inglorious days!
The cause by all was to the white assign’d,
Whether because the rarest of the kind,
Or else because every Petitioner
In antient times, for Office, white did wear.
SOmewhere in Horace, if I don’t forget,
(Flowers are no foes to Poetry and Wit;
For us that Tribe the like affection bear,
And of all Men the greatest Florists are)
We find a wealthy man
Whose Ward-robe did five thousand Suits contain;
He counted that a vast prodigious store,
But I that number have twice told and more.
Whate’r in Spring the teeming Earth commands;
What Colours e’r the painted pride of Birds,
Or various Lights the glistering Gem affords
Cut by the artful Lapidary’s hands;
Whate’r the Curtains of the Heavens can show,
Or Light lays Dyes upon the varnish’d Bow,
Rob’d in as many Vests I shine,
In every thing bearing a Princely Mien.
Pity I must the Lily and the Rose
(And the last blushes at her threadbare Clothes)
Who think themselves so highly blest,
Yet have but one poor tatter’d Vest.
These studious, unambitious things, in brief,
Wou’d fit extreamly well a College-life,
And when the God of Flowers a Charter grants
Admission shall be given to these Plants;
Kings shou’d have plenty, and superfluous store,
Whilst thriftiness becomes the poor.
Hence Spring himself does chiefly me regard:
Will any Flower refuse to stand to his award?
Me for whole Months he does retain
And keeps me by him all his Reign;
Caress’d by Spring, the season of the year,
Which before all to Love is dear.
Besides; the God of Love himself’s my friend,
Not for my Face alone; but for another end.
Lov’d by the God upon a private score,
I know for what — but say no more;
But why shou’d I,
Become so silent or so shy?
We Flow’rs were by no peevish Sire begot,
Nor from that frigid, sullen Tree did sprout,
So famed in Ceres sacred Rites;
Nor in moroseness Flora’s self delights.

Links
http://cowley.lib.virginia.edu/works/Bk3.htm – Of Plants, Book III von Abraham Cowley bei University of Virginia
http://www.gutenberg.org/ebooks/24518Memoirs of Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds von Charles Mackay als E-Book bei Gutenberg

Geburts- und Todestag von Ludwig Eichrodt

Heute ist der letzte Feiertag mit direktem Weihnachtsbezug. Obwohl für die meisten Weihnachten schon lange zurückliegt, ist erst mit diesem 40 Tage vom 25.12. entfernten Feiertag namens Mariä Lichtmess die Geburt eines erstgeborenen Sohnes abgeschlossen. Die Mutter ist nun wieder kultisch rein und der Sohn wird im Tempel symbolisch ausgelöst. Die Erstgeburt jeden Nutztieres wird Gott geopfert. Menschenopfer gibt es seit Abraham und Isaak nicht mehr.

Geburt und Tod liegen auch beim Dichter Ludwig Eichrodt nah beieinander. Heute jährt sich sein Geburtstag zum 190. Mal; und sein Todestag ist vor genau 125 Jahren gewesen. Eichrodt schuf 1853 gemeinsam mit dem Arzt Alfred Kußmaul die Kunstfigur des Weiland Gottlieb Biedermeier, eines selbstzufriedenen schwäbischen Dorfschullehrers, dem er einen Teil seiner Gedichte zuschrieb. Dieser Biedermeier gab der Epoche ihren Namen.

Aus dem Buch Biedermaier stammt auch folgendes Gedicht zum runden 70. Geburtstag des Heteronyms. Eichrodt selbst wurde – ganz braver Beamter – genau 65 Jahre alt.

An meinem 70sten Geburtstage

Vor fünfundzwanzigtausend und
Fünfhundertfünfzig Tagen stund
Ich ziemlich in Gefahr,
Denn schwer ward ich zur Welt gebracht,
Doch hat’s den Eltern Freud‘ gemacht,
Daß ich ein Büblein war.

Ja siebzig Jahre sind es schon,
Daß meiner Frau, der Appollon‘,
Nichts ahnte von dem Glück.*
Wie bitter hat mich nun gemahnt,
Seit ich zum erstenmal gezahnt,
Des Lebens Ungeschick!

Und doch, obschon ein Siebziger,
Bin ich ein Mensch ein glücklicher:
Kaum einmal war ich krank.
Zwar unberufen sag‘ ich’s nur,
Es denkt mir nicht, daß ich Mixtur
Aus meinem Glase trank.

Vonnöthen hab‘ ich keine Krück‘,
Und keine Brille für den Blick,
Ich hör‘ und schmecke gut;
Was schreib‘ ich eine feste Hand!
Gottlob es ist mir unbekannt
Das Zipperlein, wie’s thut.

Nur geht es mir wie jedem Greis,
Daß mir die Zähne reihenweis
Ausfallen kreuz und quer;
Doch tröstet mich der Umstand auch
Daß ich jetzt nicht zu beißen brauch‘
In saure Aepfel mehr.

Und wird auch mein Gedächtniß schwach,
Daß ich oft letze Sachen mach‘,
So weiß ich doch noch scharf,
Zu unterscheiden Bös und Gut,
Und was ein Christenmensch voll Muth
Zur Seligkeit bedarf.

Ja loben muß ich Gott darum,
Daß er so alt und doch nicht dumm
Mich zeitlich werden läßt.
Ein unzufried’ner Jubilar?
Er wäre ja ganz undankbar
Für ein so selt’nes Fest!

Fußnoten

* Bei meiner Geburt war nämlich meine nunmehr selige Frau ein fünfjähriges Kind.

Beginn der Geburtstagswochen

Was meinen Geburtstag angeht, bin ich ein Kind geblieben. Der Satz klingt etwas eigenartig, entferne ich mich doch gerade mit steigender Zahl an Geburtstagen von meiner Kindheit. Geblieben ist mir die Spannung auf diesen Tag hin, obwohl ich im Erwachsenenalter keine großen Überraschungsgeschenke erwarte. Es ist eine Art individueller Adventszeit, vielleicht weil mein Geburtstag auf den Vierundzwanzigsten fällt. Es sind für mich die Geburtstagswochen. Die möchte ich heute einläuten mit einer Top-Five-Liste von besonderen Jahrestagen des 1. Februar 2017, in denen sich auch die aktuelle Lage der Welt spiegeln soll:

  • 1892, vor 125 Jahren, gelangen dem Astronomen Martin Brendel gemeinsam mit dem Geografen Otto Baschin am Altafjord in Norwegen die ersten bekannten Fotografien des Nordlichts.
  • 1917, vor 100 Jahren, eröffnete die deutsche Marine im Ersten Weltkrieg den uneingeschränkten U-Boot-Krieg um Großbritannien und Frankreich, sowie im Mittelmeerraum. Das Kriegsglück drehte sich nicht. Die deutsche Jugend zwischen den Kriegen erhielt neue Helden.
  • 1942, vor 75 Jahren, ging der US-amerikanische Auslandssender Voice of America von Großbritannien in deutscher Sprache zum ersten Mal auf Sendung, um den Propaganda geplagten Deutschen die Wahrheit über den Krieg und die Naziverbrechen zu verkünden.
  • 1957, vor 60 Jahren, lief der von Felix Wankel entwickelte und später nach ihm benannte Drehkolbenmotor DKM54 auf dem Prüfstand der NSU zum ersten Mal. 1960 wurde der Wankelmotor mit dem NSU Prinz III erstmals in einem Pkw verbaut.
  • 2012, vor 5 Jahren, starb die polnische Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska. Eines ihrer bekanntesten Gedichte heißt Kot w pustym mieszkaniu (Katze in der leeren Wohnung) und erschien vor 25 Jahren in deutscher Sprache. Der Übersetzer Karl Dedecius verstarb übrigens 2016, ebenfalls im Februar.

Katze in der leeren Wohnung

Sterben – das tut man einer Katze nicht an,
Denn was soll die Katze
in einer leeren Wohnung.
An den Wänden hoch,
sich an Möbeln reiben.
Nichts scheint sich hier verändert zu haben,
und doch ist alles anders.
Nichts verstellt, so scheint es,
und doch alles verschoben.
Am Abend brennt die Lampe nicht mehr.

Auf der Treppe sind Schritte zu hören,
aber nicht die.
Die Hand, die den Fisch auf den Teller legt,
ist auch nicht die, die es früher tat.

Hier beginnt etwas nicht
zur gewohnten Zeit.
Etwas findet nicht statt,
wie es sich gehört hätte.
Jemand war hier und war,
dann verschwand er plötzlich
und ist beharrlich nicht da.

Alle Schränke durchforscht.
Alle Regale durchlaufen.
Unter Teppichen geprüft.
Trotz des Verbots
die Papiere durchstöbert.
Was bleibt da noch zu tun.
Schlafen und warten.

Komme er nur,
zeige er sich.
Er wird’s schon erfahren.
Einer Katze tut man sowas nicht an.
Sie wird ihm entgegenstolzieren,
so, als wollte sie’s nicht,
sehr langsam,
auf äußerst beleidigten Pfoten.
Noch ohne Sprung, ohne Miau.

Zum Tod von Leonard Cohen

Heute Morgen erreichte mich die Nachricht, dass gestern Leonard Cohen im Alter von 82 Jahren gestorben ist. In diesem Alter aus der Welt zu scheiden, ist kein schwerer Schicksalsschlag. Und ihn weiß ich mehr als alle anderen am Thron des Herrn stehend und singend. Aber ohne Cohen wird es in dieser Welt gleich noch bisschen kälter und einsamer.

Seine Lieder werden bleiben. Und was für Lieder! Ich könnte Top-Five-Listen für jedes einzelne Album erstellen und hätte das Gefühl, wichtige Lieder unterschlagen zu haben.

Statt eine solche Liste aufzustellen, möchte ich ein Prosagedicht aus dem 1984 erschienenen Book of Mercy zitieren, zu dem ich auch eine ganz persönliche Beziehung habe. Kerstin hieß meine beste Freundin in meinem Abiturjahrgang. Nach der Schule saßen wir manches Mal im Karstadt-Restaurant und unterhielten uns bei Bechern von Kaffee über Gott und die Welt, Literatur und Musik. Durch sie habe ich z.B. Billy Bragg kennengelernt. Bei einem dieser Treffen geschah es, dass wir uns gleichzeitig eine Neuentdeckung vorlesen wollten. Ich erhielt der Vortritt und las das folgende Prosagedicht von Cohen. Kerstin lächelte. Sie hatte dasselbe Gedicht ausgesucht.

I heard my soul singing behind a leaf, plucked the leaf, but then I heard it singing behind a veil. I tore the veil, but then I heard it singing behind a wall. I broke the wall, and I heard my soul singing against me. I built up the wall, mended the curtain, but I could not put back the leaf. I held it in my hand and I heard my soul singing mightily against me. This is what it’s like to study without a friend.

Vielen Dank, Leonard Cohen!

Literaturnobelpreis für Bob Dylan

Gestern wurde durch eine kurze Pressemitteilung bekanntgegeben, dass der Nobelpreis für Literatur in diesem Jahr Bob Dylan verliehen wird. Aus der Begründung wurde hier nur kurz zitiert, er erhalte die Auszeichnung für seine poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition.

Ich freue mich sehr über diesen Nobelpreis. Ich halte Bob Dylan schon lange für einen der – wenn nicht den – bedeutendsten Lyriker der USA. Eine große Überraschung war es allerdings für mich auch nicht. Denn schon vor einigen Jahren stand Dylan mit auf der Kandidatenliste. Außerdem ist dies nicht die erste Auszeichnung Dylans außerhalb der Pop-Welt.

Bereits 1970 verlieh ihm die Universität Princeton die Ehrendoktorwürde für seine Verdienste um die englische Sprache und Literatur. 2004 folgte ein Ehrendoktor von der schottischen Universität St. Andrews. Beide Hochschulen haben es wohl nicht nötig, sich ihrerseits mit dem Namen eines bekannten Sängers – und Tänzers (wer weiß, versteht) – zu schmücken. Schon damals durfte man an die Ernsthaftigkeit dieser Ehrungen glauben.

2008 erhielt Dylan den Pulitzer-Preis in der Kategorie Special Awards and Citations for his profound impact on popular music and American culture, marked by lyrical compositions of extraordinary poetic power. Die deutsche Akademie der Künste nahm ihn 2013 als Mitglied auf.

Der Nobelpreis für Literatur ist lediglich ein weiterer Baustein am Dylan’schen Denkmal. Es fragt sich allerdings, was jetzt noch kommen kann. Heute erst einmal: Herzlichen Glückwunsch!

Links
http://bobdylan.com/
http://pulitzer.org/
http://adk.de/
http://nobelprize.org/

Geburtstag von John Lennon et al.

Der 9. Oktober ist mal wieder so ein Tag, an dem man nicht weiß, worauf man sich konzentrieren soll. In Leipzig wird mit dem Lichtfest dem eigentlichen Scheitelpunkt der Friedlichen Revolution von 1989 gedacht. Die katholische Kirche ehrt gemeinsam mit den orthodoxen Kirchen heute den Stammvater der drei großen Buchreligionen Abraham. Schon diese zwei Punkte reichten aus, um mich nach langer Schreibabstinenz wieder richtig auszutoben.

In der westlichen Populärkultur verwurzelt, möchte ich diesen Eintrag aber vor allem John Lennon widmen. Heute vor 76 Jahren wurde er in Liverpool geboren. 40 Jahre später, am 8. Dezember 1980, wurde er in New York erschossen. Seine Lebensleistung ist bis heute unbestritten. Ich bin bereits 3 Jahre älter als John Lennon jemals wurde. Aber solche vergleiche machen immer unglücklich. Mich beeindruckt John Lennon – kurz formuliert – auf drei Feldern:

  1. The Beatles – Ich bin wohl nicht der einzige, der diese Band als die unangefochten beste Band ansieht, die es jemals auf diesem Planeten gegeben hat. Sollte ich kurz einmal daran zweifeln, muss ich nur wieder ein Album von ihnen hören. Schon bin ich wieder davon überzeugt. Auf ordentliche Argumente sowie Hörbeispiele verzichte ich an dieser Stelle mal.
  2. Autobiografisches Schaffen – Während andere Musiker noch immer fleißig Nummern einstudierten, erforschte John Lennon sein Inneres und ließ uns hören, was er über sich herausgefunden hatte. Er litt außerordentlich an seiner Biografie: die Abwesenheit des Vaters, der frühe Tod der Mutter. Das etwas weinerliche Julia auf dem White Album ist ein gutes Beispiel dafür. Von Arthur Janov mit dessen Urschrei-Ttherapie vertraut gemacht, schrie Lennon seinen Verlust in Mother minutenlang heraus.
  3. Aktionskunst – Die Begegnung mit Yoko Ono war nicht nur der Beginn einer großen Liebe, deren skeptische Beurteilung in der Popkultur viel über noch immer bestehende rassistische und sexistische Ressentiments der westlichen Jugend verrät. Es war auch ein Befreiungsschlag für Lennon, dem nun weitere Kunstformen zur Verfügung standen. Denn Ono war kein Beatles-Fangirl. Sie ist eine wichtige Konzeptkünstlerin und Vertreterin der Fluxus-Bewegung. Die Begriffe Aktionskunst und Happening wurden von ihr deutlich mitgeprägt. Gemeinsam riefen sie der Welt zu: War is over (if you want it)

Die Philosophin Hannah Arendt, deren 110. Geburtstag wir in fünf Tagen begehen, prägte nach Beobachtung des Eichmann-Prozesses 1961 den Begriff der Banalität des Bösen. Das Böse sei nicht ein eher singuläres Monster, das es zu besiegen gelte, wie etwa der Hl. Georg einen Drachen niederrang. Jeder Mensch habe in seiner Freiheit tagtäglich und mannigfaltig die Möglichkeit, sich für das Gute oder für das Böse zu entscheiden.

Das gibt uns eine große Verantwortung mit auf den Weg. Jeder Supermarkteinkauf ist eine Entscheidung für oder gegen die Massentierhaltung, für die Ausbeutung oder die Unterstützung der Menschen in der Dritten Welt. Manchmal spüren wir das. Manchmal gehen wir in der Banalität selbst unter und tun Böses.

Es kann aber auch eine große Chance sein. Denn wenn das Böse in jeder Entscheidung, in jedem Tun lauert, ist doch auch sein Gegenteil, das Gute nicht so weit entfernt. Wir müssen uns nur dafür entscheiden. Wir können uns dafür entscheiden. Dann können auch sehr schnell alle Kriege beendet werden, wenn wir es denn nur wollen. Frieden ist aus dieser Sicht ganz einfach.

An dieser Stelle möchte ich den Deutschlehrern dieser Welt ein Aufsatzthema vorschlagen: Vergleiche folgende zwei Aussprüche unter dem Gesichtspunkt der Banalität des Bösen.

Das Gute – dieser Satz steht fest –
ist stets das Böse, was man läßt.

[aus: Die Fromme Helene (Heidelberg, 1872), Wilhelm Busch]

Es gibt nichts Gutes
außer: Man tut es.

[Moral, aus: Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke (Zürich, 1936) Erich Kästner]

Link zu einem Beitrag im Deutschlandfunk über Hannah Arendt.


 

Weil ich es nun einmal nicht lassen kann, kommt hier auch noch eine ganz schnelle Top-Five-Liste von Geburtstagen des 9. Oktober (in aufsteigender Reihenfolge). Ich denke, es ist ersichtlich, welche Geburtstage ich hier ausgewählt habe, also aus welchen Gründen:

  • Werner Karl von Haeften (1908–1944) – Er war der Adjutant des Claus Schenk Graf von Stauffenberg und am Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt. Als bei der Hinrichtung der Attentäter im Hof des Bendlerblocks von Stauffenberg an der Reihe war, warf sich von Haeften vor seinen Vorgesetzten. Nach der Bestattung auf dem alten Matthäi-Friedhof in Berlin ließ Heinrich Himmler die Attentäter exhumieren, verbrennen und deren Asche verstreuen. Reinhild Gräfin von Hardenberg, die Verlobte von Haeftens starb übrigens am 23. Juni diesen Jahres.
  • Horst Ludwig Wessel (1907–1930) – Das SA-Mitglied aus Bielefeld war eigentlich ein kleines Licht. Da er von KPD-Mitgliedern getötet wurde, machten die Nazis ihn zum großen Märtyrer. Das von Wessel geschriebene Gedicht Die Fahne hoch! wurde als Horst-Wessel-Lied zum quasi zweiten Teil der Nationalhymne Nazideutschlands.
  • Heinrich George (1893–1946) – Er war ein großartiger Schauspieler und Pionier des deutschen Films. Er hatte eine Rolle in Metropolis, aber er verfing sich später in der Propagandamaschine der Nazis. Viele seiner Filme sind nur unter Vorbehalt zu sehen. Ich denke an den Hitlerjungen Quex oder Jud Süß. Sein Sohn Götz George ist in diesem Jahr am 19. Juni verstorben.
  • Victor Klemperer (1881–1960) – Der Romanist und Politiker ist mir vor allem vertraut durch seine Analyse der LTI (Lingua Tertii Imperii = Sprache des Dritten Reiches). Gerade heute, da sich der Mann auf der Straße und nach ihm so mancher Politiker über die Wortwahl im Diskurs nicht mehr so sicher ist, sollte man sich dieses Werk noch einmal vornehmen.
  • Max von Laue (1879–1960) – Diese Liste ist keine naturwissenschaftliche. Der Nobelpreisträger für Physik setzte sich in Nazideutschland für Albert Einstein ein und wurde vorzeitig emeritiert. Er hat aber vor allem einen Platz auf dieser Liste gefunden, weil seine Nobelpreis-Medaille gemeinsam mit der von James Franck in Königswasser gelöst wurde, damit sie nicht den Nazis in die Hände fiele. Nach dem Krieg wurde das Gold aus dem Gemisch von Salz- und Salpetersäure wieder extrahiert und zu neuen Medaillen gegossen.

Heute ist auch der Geburtstag von Julius Maggi (1846–1912), dem Erfinder der nach ihm benannten Würze. Der hat mit dem Nationalsozialismus nicht so viel zu tun. Er dient mir nur als Grundlage für meine Abschlusspointe, dass aus einer einheitlich braunen Soße keine feine Küche zu machen ist.

175 Jahre Lied der Deutschen

Heute vor 175 Jahren dichtete August Heinrich Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland Das Lied der Deutschen, dessen dritte Strophe die Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland ist. Die Geschichte beginnt allerdings in Österreich mit einer Hymne auf den Kaiser Franz II., dem letzten Kaiser der Heiligen Römischen Reiches und dem Begründer Kaisertums Österreich. Lorenz Leopold Haschka (1749–1827) hat sie 1796 geschrieben und noch im gleichen Jahr begann Joseph Haydn (1732–1809) die Komposition eines Streichquartetts, wahrscheinlich von einem kroatischen Volkslied inspiriert, das bis heute die Melodie der deutschen Nationalhymne werden sollte. Die erste Strophe des Textes von Haschka lautet:

Gott erhalte Franz, den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!
Lange lebe Franz, der Kaiser,
In des Glückes hellstem Glanz!
Ihm erblühen Lorbeerreiser,
Wo er geht, zum Ehrenkranz!
Gott erhalte Franz, den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!

Der mit dem Liedgut Mitteleuropas tief vertraute Sprachwissenschaftler und Vormärz-Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben arbeitete sich an der Kaiserhymne immer wieder ab. 1841 veröffentlicht er im zweiten Teil seiner Unpolitischen Lieder unter dem Titel Syrakusaise ein Gedicht, was sich nicht nur auf die gleiche Melodie singen lässt. Es hat mit auch das Herrscherlob zum Thema. Den Tyrannen Dionys kennt der deutsche Schüler bereits aus Schillers Bürgschaft.

Gott erhalte den Tyrannen,
Den Tyrannen Dionys!
Wenn er uns des Heils auch wenig
Und des Unheils viel erwies,
Wünsch’ ich doch, er lebe lange,
Flehe brünstig überdies:
Gott erhalte den Tyrannen,
Den Tyrannen Dionys!

Eine Alte sprach im Tempel
Eines Tages dies Gebet.
Der Tyrann kam just vorüber,
Wüßte gerne, was sie tät:
Sag mir doch, du liebe Alte,
Sag, was war denn dein Gebet?
Ach, ich habe nur gebetet,
Nur für Eure Majestät.

Als ich war ein junges Mädchen,
Fleht’ ich oftmals himmelan:
Lieber Gott, gib einen Bessern!
Und ein Schlecht’rer kam heran;
Und so kam ein zweiter, dritter
Immer schlechterer Tyrann;
Darum fleh ich heute nur noch:
Gott erhalt’ uns dich fortan!

Im Jahre 1844 veröffentlichte Hoffmann von Fallersleben, der mittlerweile aufgrund seiner Unpolitischen Lieder seinen Lehrauftrag in Breslau verloren hatte, in Paris das Büchlein Maitrank, in dem der folgende Text Kriech Du und der Teufel ebenfalls auf die Haydn-Melodie gesungen werden kann. Als Hinweis steht dem Gedicht voran, man könne die Melodie von O Berlin, ich muß dich lassen verwenden, einem zeitgenössischen Lied.

Ja, verzeihlich ist der Großen
Übermut und Tyrannei,
Denn zu groß und niederträchtig
Ist des Deutschen Kriecherei.
Sieht ein Deutscher seines Fürsten
Höchsterbärmlich schlechten Hund,
Tut er gleich in schönen Worten
Seine Viehbewundrung kund.

Sieht ein Deutscher seines Fürsten
Altersschwaches steifes Pferd,
Ist er freudig doch ergriffen
Von des Gaules früherm Wert.
Sieht ein Deutscher seines Fürsten
Allerältstes Hoffräulein,
Denkt er eine Bürgerstochter
Könne doch so schön nicht sein.

Sieht ein Deutscher seines Fürsten
Jämmerlichsten Kammerherrn,
Steht er still und grüßt in Ehrfurcht,
Und er sieht ihm nach von fern.
Sieht er nun den Fürsten selber,
O, wie ist er dann entzückt!
Wenn Durchlauchet ihn wieder grüßet,
Nun, dann ist er fast verrückt.

Er erzählt es allen Menschen,
Welche Gnad ihm widerfuhr,
Daß Durchlaucht ihn hat gewürdigt
Mehr als eines Blickes nur.
Er erzählet Kindeskindern:
Ja, ich habe ihn gesehen!
Und bei Gott! nun kann ich ruhig,
Ruhig in die Grube gehn.

Im gleichen Jahr wie der zweite Teil der Unpolitischen Lieder schrieb er im britischen Exil und veröffentlichte im vergleichsweise liberalen Hamburg Hoffmann von Fallersleben das Lied der Deutschen. Die drei Strophen sollten von da an das Schicksal der deutschen Nation begleiten.

Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!

Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten schönen Klang,
Uns zu edler Tat begeistern
Unser ganzes Leben lang –
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang!

Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!

Das gesamte Lied der Deutschen ist kein Kampflied. Auch die erste Strophe ist nicht der Besitzanspruch eines Nationalstaates auf heute zu anderen Nationen gehörenden Territorien. Es ist der schwärmerische Ausruf eines Exilierten. Die Maas (frz. Meuse) fließt durch Frankreich und Belgien und die Etsch (ital. Adige) in Italien. Der Belt gehört zu Dänemark und die Memel ist heute ein Fluss in Litauen. Die zweite Strophe ist aus heutiger Sicht fast ein wenig seicht. Politisch findet man in ihr nicht viel; man sieht aber, dass der Text doch in der Zeit des Dichters verhaftet ist. Heute würde es wohl nicht als politisch korrekt betrachtet werden, Frauen mit Wein und Gesang zu vergleichen. Immerhin kommt da wenigstens noch die Treue hinzu. Die dritte Strophe ist doch wohl die gekonnteste. Die Vision von Einigkeit, Recht und Freiheit. Dem Text lässt sich nicht widersprechen. Ein solches Land möchte ich auch, heute noch, vielleicht mehr denn je.

Am 11. August 1922 erhob die erste sozialdemokratische Regierung das Lied der Deutschen zur Nationalhymne. In einer Ansprache sagte er: Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Liede des Dichters gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck; es soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer besseren Zukunft begleiten…
Die Nazis sangen nur die erste Strophe, verbaten sogar die zwei weiteren und ließen dann das Horst-Wessel-Lied folgen. Mit Ende des Faschismus schien auch das Lied der Deutschen verbraucht, mit dem Makel behaftet, ein Nazilied zu sein. Doch ist es nicht. Das ist es nie gewesen. Tatsächlich kenne ich keine andere Hymne, die so wenig blutrünstig ist wie die bundesdeutsche. In anderen Ländern wird entweder der Monarch verehrt (Vereinigtes Königreich) oder von den Schlachten der Revolution erzählt (Frankreich).

Die 1950 auf der Suche nach einer neuen Hymne von Bert Brecht geschriebene Kinderhymne wurde noch im gleichen Jahr von Hanns Eisler mit einer eigenen Melodie versehen. Sie ist aber auch gut zur Melodie Haydns zu singen.

Anmut sparet nicht noch Mühe,
Leidenschaft nicht noch Verstand,
daß ein gutes Deutschland blühe,
wie ein andres gutes Land.

Daß die Völker nicht erbleichen
wie vor einer Räuberin,
sondern ihre Hände reichen
uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
andern Völkern wolln wir sein,
von der See bis zu den Alpen,
von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern,
lieben und beschirmen wir’s.
Und das liebste mag’s uns scheinen
so wie andern Völkern ihrs.

Links
http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ – Digitalisierung des Deutschlandliedes von 1841
http://www.deutschestextarchiv.de/api/pnd/118552589 – Digitalisierung der Unpolitischen Lieder von 1840 und 1841


Heute ist außerdem der Namenstag von Wulfila (311–383), dem ersten Bischof der Terwingen, einem ostgotischen Stamm. Seine Gotenbibel (oder auch Wulfilabibel) ist wohl die erste Übersetzung von biblischen Texten in eine deutsche bzw. germanische Sprache. Er übersetzte dabei aus dem Griechischen. Für die Übersetzung entwickelte Wulfila, angelehnt an das griechische Alphabet in Kombination mit lateinischen Buchstaben und Runen, die gotische Schrift. Das Vaterunser sei an dieser Stelle mit lateinischer Schrift zitiert. [Der Buchstabe þ spricht sich wie das englische th.]

atta unsar
þu ïn himinam
weihnai namo þein
qimai þiudinassus þeins
wairþai wilja þeins
swe ïn himina jah ana airþai
hlaif unsarana þana sinteinan gif uns himma daga
jah aflet uns þatei skulans sijaima
swaswe jah weis afletam þaim skulam unsaraim
jah ni briggais uns ïn fraistubnjai
ak lausei uns af þamma ubilin
unte þeina ïst þiudangardi
jah mahts jah wulþus ïn aiwins
amen

Bischof Wulfila ist auch eine Gedenktafel in der Walhalla in Donaustauf bei Regensburg gewidmet. Hoffmann von Fallersleben schrieb in seinen Unpolitischen Liedern über die vom 18. Oktober 1830 bis zum 18. Oktober 1842 im Bau befindlichen Ruhmestempel für die bedeutenden Persönlichkeiten teutscher Zunge:

Sei gegrüßt, du hehre Halle
Deutscher Größ‘ und Herrlichkeit!
Seid gegrüßt, ihr Helden alle
Aus der alt‘ und neuen Zeit!

O ihr Helden in der Halle,
Könntet ihr lebendig sein!
Nein, ein König hat euch alle
Lieber doch in Erz und Stein.

Links
http://www.wulfila.be/ – Das Wulfila-Projekt der Universität Antwerpen
http://www.wulfila.be/gothic/browse/ – Zeilenweise Darstellung der Gotenbibel mit griechischer und englischer Entsprechung (innerhalb des Wulfila-Projekts)
http://www.gotica.de/ – Übersicht von Gotisch-Projekten
http://www.schloesser.bayern.de/ – Die Walhalla in Donaustauf bei Regensburg

Todestag bedeutender Autoren

Heute ist vor allem der Geburtstag zweier für mich sehr wichtiger Menschen. Da aber deren Bedeutung – vorerst – nur persönlicher Natur ist und nicht kulturgeschichtlichen Rang besitzt, sollen sie hier nicht Gegenstand eines Blog-Eintrags werden. Stattdessen kümmere ich mich um Todestage bedeutender Autoren in einer Top-Five-Liste in zeitlicher Reihenfolge:

  1. Gottfried Keller (1819–1890) – Der gebürtige Züricher wurde erst Landschaftsmaler, dann politisch Bewegter Lyriker des Vormärz und schließlich einer der wichtigsten Vertreter des bürgerlichen Realismus. Der grüne Heinrich, Kleider machen Leute und Romeo und Julia auf dem Dorfe sind bis heute weit bekannt.
  2. Anton Pawlowitsch Tschechow (1860–1904) – Umfasst das Œuvre Tschechows auch hunderte von Novellen und Erzählungen, kennt man heute vor allem die letzten vier Theaterstücke des russischen Dramatikers, Autors und Arztes: Die Möwe, Onkel Wanja, Drei Schwestern, Der Kirschgarten. Und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich lediglich den Kirschgarten gesehen habe. Aber dafür habe ich außerdem den Roman Gletschertheater der isländischen Steinunn Sigurdardóttir gelesen, in dem eine Leienspielgruppe den Kirschgarten zur Aufführung bringt.
  3. Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) – Er ist ein wichtiger Protagonist der Wiener Moderne, Mitbegründer der Salzburger Festspiele, ein Freund Stefan Georges und der Librettist von Richard Strauß. Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes wird seit 1920 jedes Jahr in Salzburg aufgeführt. Seit 1922 in einer Mundartfassung auch in Mondsee. Dort habe ich es 1989 sehen können.
  4. Roberto Bolaño Ávalos (1953–2003) – Ich hätte diesen chilenischen Autoren wohl nie kennengelernt, hätte nicht Patti Smith bei ihrem Konzert von der Bühne herab seinen letzten und großen, postum veröffentlichten Roman 2666 zur Lektüre empfohlen. Ein aufmerksamer und guter Freund schenkte mir daraufhin ein Exemplar. Leider befindet es sich noch in dem Regal der zu lesenden Werke. Was ich über das Buch weiß, klingt aber vielversprechend.
  5. Otto Häuser (1924–2007) – Einen ganz anderen Ton bekommen wir mit dem Fünften in der Liste, der aus der erzählerischen Perspektive des 12-jährigen Ottokar Domma den DDR-Alltag beschrieb. Der Diplom-Pädagoge und Oberstudienrat bekam dafür noch 2006 das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Nicht mit in der Liste, aber heute im stolzen Alter von 105 Jahren gestorben ist der argentinische Autor Juan Filloy (1894–2000). Ich kenne ihn nicht. Bei meinen Recherchen bin ich auf ihn gestoßen. Und die Tatsache, dass er 14.000 Palindrome verfasste bzw. sammelte, lässt mich ihn doch noch erwähnen. Palindrome sind Wörter oder Sätze, die man Zeichen für Zeichen von vorne wie von hinten lesen kann. Kurt Schwitters rühmte seine Anna Blume dafür; Erich Fried zog seine Anna Emulb vor. Dazu kommt noch der Gag, dass die Angst vor Palindromen Eibohphobie genannt wird.