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Die Kirche und das ewige Blaue

Heute vor genau 800 Jahren wurde in Salisbury der Grundstein für The Cathedral Church of St Mary gelegt. Die Kathedrale ist ein frühes Beispiel für den Early English Style, der typisch englischen Ausprägung der Frühgotik. Der 100 Jahre später vollendete Vierungsturm ist heute mit 123 Metern der höchste Kirchturm Englands. Um ihn tragen zu können, wurden die Eckpfeiler der Vierung mit den charakteristischen Scherenbögen versehen, welche die Lasten noch einmal verteilen bzw. ableiten.

Die Kathedrale von Salisbury ist die Vorlage für den Roman Die Säulen der Erde (1989) von Ken Follett, der 2010 in einer deutsch-kanadischen Koproduktion verfilmt wurde. Das nehme ich zum Anlass für eine Top-Five-List von Schriftstellern, die heute Geburtstag haben:

  • Karl Kraus (1874–1936) – Der Dichter und Publizist bemühte sich um einen aufklärenden Journalismus. Für die Hetzblätter prägte er den Begriff Journaille. Heute wissen wir, dass der Kampf um guten Journalismus niemals aufhört.
  • Bruno Apitz (1900–1979) – Der Leipziger war früh Teil der Arbeiterbewegung, erst SPD, dann KPD. Im Nationalsozialismus kam er ins KZ. Sein Roman Nackt unter Wölfen ist bis heute Schulliteratur.
  • Kurt Friedrich Gödel (1906–1978) – Eigentlich ist Gödel Mathematiker und Logiker. Doch sein Nachweis, dass es in hinreichend starken Systemen Aussagen geben muss, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen, kann auch in der Literatur und in der Lebenswelt so herrlich angewendet werden. Schließlich beschäftigte sich Gödel auch mit dem Gottesbeweis.
  • Harper Lee (1926–2016) – Sie schrieb nur ein Buch: To Kill a Mockingbird. Aber der wurde verfilmt mit Gregory Peck in der Hauptrolle als aufrechter Amerikaner.
  • Terence David John Pratchett (1948–2015) – Terry Pratchett gehört zu den großen der Fantasy-Literatur, genauer des Teils der Fantasy-Literatur, der man ein gewisses literarisches Niveau zugestehen muss. Und ich schwöre, dass ich wirklich einmal ein Buch von ihm lesen werde!

Die Liste prominenter Geburtstage reisst nicht ab. Heute vor 112 Jahren wurde der Unternehmer Oskar Schindler (1908–1974) geboren. Seine durch Steven Spielberg weltbreühmte Liste von kriegsnotwendigen Zwangsarbeitern rettete vielen Juden in Nazideutschland das Leben. Der Staat Israel erklärte ihn 1993 zu einem Gerechten unter den Völkern. Die von ihm Geretteten übergaben Schindler zum Dank einen Ring, der aus Zahngold gefertig war und einen Satz aus dem Talmud enthielt:

Wer nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.

Man kann sagen, dass ein weiteres Gebrutstagskind des 28. April den passenden künstlerischen Ausdruck für das 20. Jahrhundert gefunden hat: Yves Klein (1928–1962) und seine Monochromen Vorschläge (siehe Beitragsbild).

Blau war in der Malerei des Mittelalters eine heilige Farbe. Und die Romantiker verzehrten sich in Sehnsucht nach der blauen Blume. Heute ist uns das Blau des Himmels oft noch Sinnbild des Göttlichen oder zumindes des Ewigen. Vor diesem Ewigen werden sich auch die letzten drei Jubilare des heutigen Tages rechtfertigen müssen:

  • António de Oliveira Salazar (1889–1970) – Er war von 1932 an als Ministerpräsident und später auch als Präsident Portugals der Staatsführer einer faschistoiden Diktatur, die erst vier Jahre nach seinem Tode mit der Nelkenrevolution beendet wurde.
  • Karl-Eduard Richard Arthur von Schnitzler (1918–2001) – Der schwarze Kanal war eine Sendung im DDR-Fernsehen. Dort schüttete der hinter vorgehaltener Hand als Sudel-Ede bezeichnete Moderator seine Propaganda über den Kapitalismus aus.
  • Saddam Hussein (1937–2006) – Der Diktator des Irak unterdrückte und mordete Kurden und Schiiten. Er war lange Zeit das Ziehkind des Westens gegen die kommunistischen Einflüsse im Iran und Afghanistan. Als er zu viel wollte und Kuwait besetzte, ließen ihn die USA fallen.

Ein Tag der Anfänge

Noch ist Januar, der erste Monat des Jahres. Noch fühlt sich das Jahr ein bisschen neu an. Noch kann man mit etwas beginnen, was später einmal, im Rückblick, das persönliche Jahr prägen wird.

In der großen Kultur wird man sich das auch so gedacht haben. Warum sonst ist heute ein Tag der Premieren, Uraufführungen und Erstveröffentlichungen? Es sind so viele, dass ich meine geliebte Liste mal wieder verdoppeln muss. Als eine Top-Ten-Liste der Anfänge in Kunst und Kultur des 29. Januar.

  • 1728 wurde im Lincoln’s Inn Fields Theatre in London das komische Singspiel The Beggar’s Opera von John Gay uraufgeführt (siehe Beitragsbild). Die Musik dazu stellte der deutsche Komponist Johann Christoph Pepusch aus bekannten Arien und Gesängen seiner Zeit. Ziemlich genau 200 Jahre später würde Bertolt Brecht seine Adaption auf die Bühne bringen: Die Dreigroschenoper mit der Musik von Kurt Weil.
  • 1770 wurde in Weimar das komische Singspiel Die Jagd von Johann Adam Hiller uraufgeführt, bevor dieser 1789 zum dritten Bachnachfolger als Thomaskantor wurde. Das Libretto stammt von Christian Felix Weiße, der als der Erfinder der Jugendliteratur gilt und auch sonst in Leipzig kein Unbekannter ist.
  • 1781 findet am Münchner Residenztheater die Uraufführung der Oper Idomeneo von Wolfgang Amadeus Mozart statt. Mozart selbst hielt sie für seine beste Arbeit.
  • 1845 erscheint im New Yorker Evening Mirror erstmalig The Raven, das Gedicht von Edgar Allan Poe. Das Gedicht setzte Maßstäbe im Bereich der Schauerliteratur. Auch die Simpsons haben sich mit diesem Werk auseinandergesetzt (siehe Video).
  • 1917 war die Uraufführung des Dramas Die Bürger von Calais im Neuen Theater in Frankfurt am Main. Es ist der Durchbruch für den Dramatiker Georg Kaiser.
  • 1929 kam die Erstauflage des Romans Im Westen nichts Neues heraus und war durch Vorbestellungen sofort vergriffen. Erich Maria Remarque hatte zwölf Jahre an diesem Buch gearbeitet.
  • 1956 wurde Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Therese Giehse, die bereits Brechts Mutter Courage die erste irdische Gestalt verlieh, spielt die Titelfigur.
  • 1958 erfolgte die Uraufführung des französischen Kriminalfilms Fahrstuhl zum Schafott von Louis Malle. Jean Moreau spielte die Hauptrolle und Miles Davis lieferte die Musik.
  • 1959 war die Uraufführung des zeichentrickfilms Sleeping Beauty (Dornröschen) der Walt Disney Company. Die Musik stammt von Pjotr Iljitsch Tschaikowski.
  • 1964 wurde Stanley Kubricks Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben uraufgeführt. Peter Sellers übernahm gleich mehrere Rollen in diesem Film.

Buchbesprechung: Der Filmvorführer

Georgien haben die meisten Deutschen nicht im Zentrum ihres Radars. Die Beatles haben in ihrem Hit Back in the USSR versichert, dass sie Georgia immer im Hinterkopf behalten würden. Das war allerdings eher eine Homage an Ray Charles, der mit seinem Hit Georgia on my mind den Bundesstaat der USA besungen hatte, in dem er 1930 geboren wurde. Ein gutes halbes Jahrhundert vorher, nämlich 1878 wurde mit Josef Stalin der wohl berühmteste Georgier geboren. Doch der Herr Dschughaschwili ist nicht unbedingt Reklame für das kleine Land. Ich persönlich kann dann gerade noch Eduard Schewardnadse nennen, der erst Außenminister der Sowjetunion war und später Präsident Georgiens. Damit erschöpfte sich bis vor kurzem mein Wissen über Georgien.

Dann habe ich die Musikerin Nino Chokhonelidze kennen gelernt. Sie hat mein Buch Wenn du nicht bist … ins Georgische übersetzt. Bei der Zusammenarbeit habe ich das georgische Alphabet zum ersten Mal gesehen. Und das georgische Märchen vom Aschenstocherer gehört. Aber genau das möchte ich ja mit meinem Übersetzungsprojekt unter anderem erreichen –  Sprachen und Kulturen zu entdecken. Aber dieser Blog-Eintrag sollte gar nicht von mir handeln, sondern von einem Buch, das ich gerade gelesen habe. Ein Buch, das mir Nino mitgebracht hat, um Georgien noch ein bisschen besser zu verstehen.

Der FilmvorführerDer Filmvorführer von Aka Morchiladze ist ein Roman, der 2009 in Georgien und 2018 in einer deutschen Übersetzung von Iunona Guruli beim Weidle Verlag erschienen ist. Morchiladze wurde 1966 in Tiflis geboren und gehört wohl zu den bekanntesten zeitgenössischen Autoren Georgiens. Bereits 20 Romane hat er veröffentlicht und eine ganze Reihe von Kurzgeschichten. Einige seiner Bücher sind bereits verfilmt. Sein Roman Reise nach Karabach wurde nicht nur ein Bestseller, sondern ein regelrechtes Kultbuch.

Doch hier soll es ja um den Filmvorführer gehen. Der beginnt etwas verschachtelt. Der junge Mann Beso arbeitet als Fahrer bei einer internationalen Organisation. Von einem Tag auf den anderen ist er verschwunden. Was von ihm bleibt, ist seine Lebensgeschichte, die er als ein Manuskript auf Englisch hinterlässt. Das kann ein Grund dafür sein, dass die Sprache in diesem Roman sehr reduziert scheint, einfach, grob. Es hat mich ein wenig an das Deutsche aus der Zeit der Inventur erinnert (Eich, Böll, Borchert).

Beso schildert sein Leben in der westgeorgischen Provinz in der Nähe von Kortaissi. Bereits in jungen Jahren schließt er Freundschaft mit dem 40 Jahre älteren Islam Sultanow, der als Sohn eines Khans in der postrevolutionären Sowjetunion lediglich als Filmvorführer in einer Kleinstadt arbeiten kann. Sie schließen eine besondere Freundschaft, die nach dem frühen Unfalltod von Besos Vater zu einer quasi Vater-Sohn-Beziehung heranreift.

Zum Militärdienst nach Afghanistan abkommandiert, überlebt Beso die Gefangennahme durch die Taliban nur durch ein Schriftstück, das ihm Islam Sultanow vor dem Einsatz in weiser Vorraussicht übergeben hatte.

Besos Leben nach dem Militärdienst ist geprägt von Antriebs- und Orientierungslosigkeit, was einer nicht dezidiert thematisierten Posttraumatischen Belastungsstörung einerseits und den gesellschaftlichen Umwälzungen in der Sowjetunion andererseits geschuldet sein mag. Sultanow setzt wichtige Impulse: Heiraten, Englisch lernen, ein Auto kaufen.

Dann geht Sultanow fort, um sein angestammtes Khanat zurückzuerobern – und stirbt dabei. Den Anfang im Hinterkopf könnnen wir uns vorstellen, dass Beso aufgebrochen ist, um das Erbe seines Wahlvaters anzutreten.

Der Filmvorführer heißt im georgischen Original Mameluk. Das ist – vermutlich – der Spitzname, den die Bevölkerung in der Kleinstadt dem Filmvorführer Islam Sultanow gegeben hat. In der deutschen Fassung wird er Tatar genannt. Vielleicht übersehe ich etwas, aber ich halte das nicht für eine glückliche Übersetzung.

Ein Tatar ist ein Angehöriger von heute noch verstreut in Russland lebenden Turkvölkern und meist moslemischen Glaubens. Auch die Aserbaidschaner, Nachbarn der Georgier, und Kasachen werden heute Tataren genannt. Das passt natürlich schon. Aber ein Mameluk ist eine arabische Bezeichnung für Sklaven, die in den Militärdienst gezwungen wurden. In diesem Begriff verbinden sich Islam Sultanow und Beso. Das Wort hätte man doch auch im Deutschen als Titel beibehalten können. In der Berufsbezeichnung steckt jedenfalls nicht viel von der Magie dieses Buches.

Ja, viel ist es nicht, was ich dazu schreiben kann. Es sind nur 130 Seiten. Und jetzt habe ich mir einige andere Bücher bestellt. Ich möchte mehr erfahren. Empfehlung!

Links
http://www.weidleverlag.de/ – Deutscher Verlag von Aka Morchiladze
https://www.epubli.de/ – როცა აქ არ ხარ … / Wenn du nicht da bist … (Georgisch)

Literarische Geburtstage

Heute vor 1980 Jahren wurde der römische Kaiser Titus geboren. Man kennt ihn heute wohl vor allem als Oberbefehlshaber im Jüdischen Krieg und somit als Zerstörer des Tempels in Jerusalem und gemeinsam mit seinem Vater Vespasian als Erbauer des Kolosseums. Für die Finanzierung erhob der Vater eine Steuer auf die öffentlichen Toiletten. Vor seinem Sohn verteidigte er sich mit dem berühmten Satz: pecunia non olet (Geld stinkt nicht). Die Abschlussfinanzierung stammte aus der Jerusalemer Kriegsbeute. Das war dem Kaiser weit weniger anrüchig.

Titus soll ein guter Stegreifdichter gewesen sein. Das würde ihn auch heute noch zu einem beliebten Partygast machen – außerhalb Jerusalems. Besondere literarische Werke seiner Feder sind mir nicht bekannt. Aber große Autoren seiner Zeit beschäftigten sich mit ihm. Sueton widmete ihm eine seiner Kaiserbiographien, Flavius Josephus beschreibt den Jüdischen Krieg und Plinius der Ältere widmete dem Freund und Kaiser seine Naturgeschichte.

Doch in diesem Blog-Eintrag soll es um Schriftsteller geben. Die hat der 30. Dezember nämlich auch zu bieten. Daher eine Top-Five-Liste von literarischen Geburtstagen, allen voran ein großes Jubiläum:

  • Theodor Fontane (1819–1898) – Vor genau 200 Jahren wurde er geboren. Bis heute quält man Schüler mit ihm. Doch langsam komme ich wohl in das Alter ihn zu mögen. Auch seine Biographie macht mir etwas Mut: Seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg veröffentlichte er mit 42 Jahren. Das war sein erstes größeres Werk. Effi Briest und den Stechlin schrieb er erst in seinen Siebzigern.
  • Rudyard Kipling (1865–1936) – Er bekam mit 42 bereits den Literaturnobelpreis. Und wegen des Dschungelbuches liebt ihn bis heute fast jedes Kind. So unterschiedlich beide Biografien sein mögen, ich glaube, Kipling und Fontane hätten sich gut verstanden, wenn Kinpling nicht so anti-deutsch eingestellt gewesen wäre, dass er sogar das Geburtsdatum seines Sohnes fälschte, um ihm die frühe Teilnahme am Ersten Weltkrieg zu ermöglichen. Auf den Grabstein seines Sohnes ließ er dann setzen: If any question why we died, tell them, because our fathers lied.
  • Jacques Rigaut (1898–1929) – Er war ein französischer Dadaist mit Freundschaften zu Louis Aragon, André Breton, Man Ray und Max Ernst. Rigaut hatte schon früh alles durch, was manche moderne Rochstars noch vor sich haben: Opium, Kokain, Heroin. Er schrieb über Langeweile und Suizid. Mit 31 Jahren nahm er sich das Leben.
  • Paul Bowles (1910–1999) – Autor, Komponist sowie Förderer und Übersetzer war Bowles wichtiges Vorbild der Beat-Generation. Man kann ihn auch Wegbereiter einer neuen Orientrezeption nennen. Ihm folgten Truman Capote, Tennessee Williams, William S. Burroughs und Jack Kerouac nach Tanger.
  • Douglas Coupland (*1961) – Der bildende Künstler und Autor wurde mit seinem Roman Generation X (1991) nicht nur weltberühmt; er sorgte dafür, dass der Generationsname X, bisher immer für die folgende unbekannte Generation verwendet, haften blieb. Nun folgten ihr Y und Z in der Terminologie der Soziologen.

Da es aber heute doch der große Tag von Theodor Fontane ist, möchte ich mit einer gesellschaftskritischen Humorage von Jan Böhmermann aus dem Neo Magazin Royale enden. Viel Vergnügen!

 

 

Frohe Weihnachten

Mein Weihnachtsgruß ist bebildert mit dem Werk eines Niederländischen Meisters (1490–1510). Es ist der Flügel eines Marienaltars, welcher der Kirche St. Peter und Paul in Wróblewo (Sperlingsdorf) bei Danzig 1591 von der Witwe Ursula Schewecke, geb. Wennenpfennings gestiftet wurde. In dieser Kirche stand der Altar bis 1945. Heute ist er im Danziger Nationalmuseum zu sehen. Dort bin ich im Sommer 2018 über dieses Bild gestolpert.

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Mich hat die Abbildung sofort an den Koran erinnert. Koran und Jesus? Ja. Jesus ist im Islam eine wichtige Person. Er wird ein Prophet genannt, ein Gesandter und Messias. Sogar als Wort Gottes wird er bezeichnet und als neuer Adam. Nur die Gottessohnesschaft wird kathegorisch abgelehnt. Das weihnachtliche Geschehen wird in der Sure 19 erzählt, die auch den Namen Mariens trägt:

Da wurde sie mit ihm schwanger und zog sich mit ihm an einen fernen Ort zurück. Dann trieben sie die Wehen zum Stamm der Palme. Sie sagte: »Wäre ich doch nur schon zuvor gestorben und ganz und gar vergessen!« Da rief er ihr von unten zu: »Sei nicht traurig! Dein Herr hat unter Dir ein Bächlein fließen lassen. Rüttle den Palmenstamm zu dir hin, dann lässt sie frische Datteln auf dich fallen. Iss, trink und sei guten Muts! Wenn du jemanden von den Menschen siehst, sprich: ›Ich habe dem Barmherzigen ein Fasten gelobt, deswegen werde ich heute mit keinem Menschen reden.‹«

Sure 19, 22–26

Josef taucht im Koran nicht auf. Jesus braucht keinen Vater. Er ist tatsächlich der einzige Mensch, der im Koran nach seiner Mutter näher bestimmt wird: Isa ibn Maryam (Jesus, Sohn der Maria).

Wie kommt nun diese Schilderung auf einen Altarflügel einer christlichen Kirche? Der Schlüssel ist das Pseudo-Matthäus-Evangelium, das wahrscheinlich im 7. bis 8. Jahrhundert entstanden ist. Es führt mehrere andere apokryphe Evangelien leicht bearbeitet zusammen, wie das Protevangelium des Jakobus und das Kindheitsevangelium nach Thomas. Teile des Pseudo-Matthäus wurden im 13. Jahrhundert von Jakobus de Voragine in die Legenda Aurea aufgenommen. Aus dieser Legendensammlung bedienten sich die Kunstmaler auf ihrer Motivsuche.

Hier ist nun Josef mit dabei. Und die Wunder mit Dattelpalme und Quelle geschehen nicht bei der Geburt, sondern auf der Flucht nach Ägypten.

Am dritten Tag ihrer Reise geschah es, daß Maria von der allzu großen Sonnenglut in der Wüste müde wurde, und als sie einen Palmbaum sah, sprach sie zu Josef: „Ich möchte in seinem Schatten ein wenig ausruhen.“ Josef aber führte sie eilends zu der Palme und ließ sie von dem Lasttier absteigen. Als Maria sich niedergelassen hatte, schaute sie zur Krone der Palme hinauf und sah sie voller Früchte. Sie sagte zu Josef: „Wenn es möglich ist, möchte ich gern von den Früchten der Palme haben.“ Josef sprach zu ihr: „Es wundert mich, daß du dies sagst, weil du sehen kannst, wie hoch die Palme ist, und daß du trotzdem darüber nachdenkst, von den Palmfrüchten zu essen. Ich denke eher über unseren Wassermangel nach, da uns das Wasser in den Schläuchen zur Neige geht und wir nichts haben, womit wir uns und die Lasttiere erfrischen könnten.“

Da sagte das Jesuskind, das mit fröhlicher Miene auf dem Schoß seiner Mutter saß, zu der Palme: „Neige dich, Baum, und erfrische meine Mutter mit deinen Früchten!“ Und sogleich auf diesen Ruf neigte die Palme ihre Krone bis zu den Füßen Marias, und man sammelte von ihr Früchte, an denen sich alle gütlich taten. Als man alle Früchte von der Palme geerntet hatte, blieb sie in geneigter Stellung in der Erwartung, sich auf Befehl dessen wieder aufzurichten, auf dessen Geheiß sie sich geneigt hatte. Da sprach Jesus zu ihr: „Richte dich auf, Palme, und komm wieder zu Kräften! Sei Genossin meiner Bäume, die im Paradies meines Vaters stehen!

Öffne aber unter deinen Wurzeln eine Wasserader die in der Erde verborgen ist, und aus ihr sollen Wasser fließen, um unseren Durst zu stillen!“ Sogleich richtete die Palme sich auf, und an ihren Wurzeln begannen ganz klare, frische und ganz süße Wasserquellen zu sprudeln. Als sie aber die Wasserquellen sahen, freuten sie sich ungemein. Sie löschten den Durst zusammen mit allen Lasttieren und Menschen und sagten Gott Dank.

Kapitel 20, 1–3

Ich wünsche all meinen Freunden – Christen, Moslems, Andersgläubigen, Atheisten und Agnostikern – eine besinnliche und frohe Zeit! Eine gesegnete Weihnacht! Gott schaut auf uns und gibt uns nicht verloren.

Links
http://www.mng.gda.pl/ – Das Nationalmuseum in Danzig
https://corpuscoranicum.de/ – Koran-Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
http://12koerbe.de/ – Private Website des Altphilologen Hans Zimmermann, Görlitz

Quasi Top-Five-Listen von Schriftstellern mit heutigem Geburts- oder Todestag

Heute ist mal wieder ein besonders wichtiger Tag für die Welt der Dichter und Denker und für die der Leser. Wenn ich mir meine letzten (und die heute aufgestellten) Top-Five-Listen so anschaue, drängt sich mir das GEfühl auf, dass ich mich stärker disziplinieren muss. Warum heißen diese Listen wohl Top Five? Nichtsdestotrotz hier eine auf sieben aufgestockte Top-Five-Liste der Schriftsteller, die heute, am 02. Juli, Geburtstag haben:

  • Abraham a Sancta Clara (1644–1709) – Über 600 Schriften hinterließ uns dieser Ordensmann und ist damit einer der bedeutendsten Dichter des deutschsprachigen katholischen Barock. Ich lernte ihn durch Judas Der Ertz-Schelm kennen, ein Werk, das den Verräter Christi in eine Ecke mit dem Vatermörder Oidipus stellt.
  • Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) – Aufklärung, Empfindsamkeit – mit diesen Worten verbindet man Klopstock. Er träumte von einer deutschen Gelehrtenrepublik und einem deutschen Nationalepos, das von ihm zu schaffen sei, der Messias. Ich kann beim Lesen seiner Texte heute keine große Freude empfinden. Seiner Bedeutung in der Literaturgeschichte tut dies keinen Abbruch.
  • Lily Braun (1865–1916) – Die stolze Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin ist bestimmt einen langen Eintrag wert. Tatsächlich habe ich mich noch nicht lang und intensiv genug mit ihr beschäftigt. Ich kam zu ihr über ihren Sohn, den Hochbegabten 1918 mit 20 Jahren gefallenen Otto Braun. Auf meiner ewig langen Leseliste stehen die Memoiren einer Sozialistin.
  • Hermann Karl Hesse (1877–1962) – Er überstrahlt heute alle anderen Jubilare; denn dies ist mit 130 Jahren ein runder Geburtstag. Außerdem gelingt es seinen Texten bis heute, sowohl bei Deutschlehrern als auch pubertierenden Schülern beliebt zu sein. Allein dafür hätte er in meinen Augen seinen Literaturnobelpreis (1946) bereits verdient.
  • Hans Günther Adler (1910–1988) – Er promoviert über Klopstock und arbeitete bei der Urania für die Volksbildung. Er geriet in die Fänge der Nationalsozialisten und überlebte das Grauen. Er schrieb sowohl Belletristik als auch Sachbücher zu den sein Leben prägenden Ereignissen. Als Standardwerk gilt bis heute: Theresienstadt 1941–1945, Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft.
  • Josef Guggenmos (1922–2003) – Guggenmos ist ein wichtiger Vertreter der Literatur für Kinder. Ich bin mit Texten von ihm aufgewachsen. Mittlerweile tragen einige Grundschulen seinen Namen, der irgendwie zu Kinderlyrik besonders gut zu passen scheint.
  • Wisława Szymborska (1923–2012) – Die polnische Literaturnobelpreisträgerin (1996) habe ich in diesem Jahr schon einmal erwähnt. Am 1. Februar war ihr fünfter Todestag. Zum Eintrag inklusive einem Gedicht von ihr.

Der 2. Juli ist aber auch der Todestag bedeutender Autoren. Daher gleich noch eine sieben Namen umfassende Top-Five-Liste (sortiert nach Todesjahr):

  • Nostradamus (1503–1566) – Ich gestehe, seine Schriften nicht tatsächlich gelesen zu haben. Immer wieder hört man, er habe das eine oder andere vorhergesagt. In dieser Liste steht er vor allem, um zu zeigen, dass sein Werk zur Dichtung gezählt werden muss.
  • Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) – Sein Leben könnte eher aus einem Schundroman stammen. Seine Werke haben die europäische Geisteswelt nachhaltig verändert. Sie sind das Fundament der Aufklärung. Bis heute kann man zumindest Anregungen aus seinen Schriften zu wirtschaftlichen, sozialen und pädagogischen Fragen ziehen. Heute mag ich einen Satz aus seinem Buch Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) besonders gern, den ich am Ende dieses Eintrags wiedergebe.
  • Ernest Miller Hemingway (1899–1961) – Über Literaturnobelpreisträger (1954) muss ich wohl nicht so viel schreiben. Die sind meist bekannt. Hemingway ist übrigens mehr als Der alte Mann und das Meer.
  • Vladimir Nabokov (1899–1977) – Nabokov gehört noch stärker als Hemingway zu den Künstlern, deren Gesamtwerk hinter dem Ruhm eines einzelnen Werkes zurücktritt; zumal es in seinem Falle auch noch ein pikantes ist. Lolita ist sogar genrebildend geworden. Wer kennt einen weiteren Text von Nabokov?
  • Josef Mühlberger (1903–1985) – Der Sudetendeutsche schrieb 1934 den Roman Die Knaben und der Fluss. Unser heutiges Geburtstagskind Hesse schrieb darüber, es sei wie eine Vogelmelodie, die schönste und einfachste junge Dichtung, die [er] seit langer Zeit gelesen habe.
  • Mario Gianluigi Puzo (1920–1999) – Wahrscheinlich kennt man eher die Verfilmungen seiner Bücher. Für Der Pate und Der Pate, Teil II erhielt er je einen Oscar; denn die Drehbücher hatter Puzo ebenfalls erarbeitet. Ich glaube aber, dass der Ruhm doch eher dem Regisseur Francis Ford Coppola und natürlich den unvergleichlichen Marlon BRando und Al Pacino zu verdanken ist.
  • Elie Wiesel (1928–2016) – Wiesel ist ein Holocaust-Überlebender und wichtiger Zeitzeuge, der in Romanen und Sachbüchern den Faschismus damals thematisiert und der Fratze der Unmenschlichkeit auch in unseren Tagen die Maske herunterriss. 1986 erhielt er den Friedensnobelpreis für seine Vorbildfunktion im Kampf gegen Gewalt, Unterdrückung und Rassismus.

Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: „Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, das die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.“
aus: „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“
von: Jean-Jacques Rousseau

Wrocław und Abbas Khider

Das war wieder eine längere Posting-Pause. Zwei Polen-Aufenthalte und auch ein wenig die Arbeit haben sie nötig werden lassen. In den letzten Tagen überlegte ich, ob und welche Fotos ich von meinen Fahrten nach Breslau, Krakau und Auschwitz posten sollte. Aber irgendwie fühle ich mich gar nicht danach.

Seit einigen Tagen gährt in mir viel Wut und Traurigkeit, wenn ich an Bautzen denke. Ich höre die Meldungen, lese die Artikel und kann nicht fassen, wie das Geschehen so lakonisch aufgenommen werden kann. Mir fällt kein konstruktiver Lösungsansatz ein. Nach einem Urlaubsboykott von Usedom muss wohl auch Bautzen auf die Liste. Bei der Ersten Hilfe gilt es ja auch, die eigene Gefährdung zu vermeiden. Aber da muss noch etwas folgen. Wir können die unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten doch nicht in solcher Gesellschaft lassen!

Eine Polen-Impression passt an dieser Stelle. Breslau/Wrocław ist in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas. Einiges was in diesem Rahmen veranstaltet wurde habe ich wahrgenommen. Eins allerdings nicht, weil es eine Terminüberschneidung gab. Im stillgelegten Świebodzki Bahnhof (ehemals Freiburger Bahnhof) war ein genreübergreifendes Kunstprojekt untergebracht zum Thema Flüchtlinge. Der allgemein Titel lautet auf Englisch:

unfinished palace,
migrating people,
moving border /
european songlines

Schon dieser Titel hat mich für dieses Projekt eingenommen, spielt er doch auf die im Deutschen Traumpfade genannten Wege der australischen Ureinwohner. Bruce Chatwin hat einen wunderbaren Roman unter dem Titel „The Songlines“ veröffentlicht. Eine wichtige These Chatwins ist, dass die Sesshaftigkeit des sich entwickelnden Menschen der eigentliche Sündenfall ist. Mit ihr komme das Besitzstreben – über Tragbares hinaus. Besonders interessiert hätte mich die Multimedia-Inszenierung „Don’t Be So Sure That You Are Legal“ im Rahmen der European Songlines. Wir sind uns in Deutschland ja so sicher. Wir geben auch gerne neunmalkluge Ratschläge, was ein junger Flüchtling besser hätte machen sollen, anstatt nach Europa zu kommen. Woher nehmen wir dieser Dreistigkeit? Und was passiert, wenn wir einmal wieder gute Gründe finden für eine Flucht?

In der selben Zeit hat mich eine gute Freundin auf den Autoren Abbas Khider aufmerksam gemacht. Er ist auf den Tag genau eine Woche jünger als ich, hat aber eine vollkommen andere Biografie. Khider wurde in Bagdad geboren und lebt seit 2000 in Deutschland. Was ihn zur Flucht bewogen hat und auf welchen verworrenen Wegen sie letztendlich gelang, ist – künstlerisch überformt und verfremdet – Inhalt seines ersten Romans „Der falsche Inder“, den ich an dieser Stelle rückhaltlos empfehlen möchte. Khider schreibt übrigens auf Deutsch. Das nenne ich eine Integrationsleistung. Sein jüngstes Werk „Ohrfeige“ schildert die Lage der Flüchtlinge in den Fängen der deutschen Bürokratie. Ebenfalls sehr lesenswert. Es ist vom WDR zu einem knapp einstündigen Hörspiel verarbeitet worden, das auch auf CD erhältlich ist.

Links
http://niedokonczonydom.pl/en/
http://europaoculta.de/
http://www.wroclaw2016.pl/
http://www.abbaskhider.com/

Todestag von Klaus Mann

Heute ist der Todestag eines meiner absoluten Lieblingsschriftsteller: Klaus Mann. An meinem Schreibtisch sitzend habe ich immer seine Werke im Regal gegenüber im Blick. Ich habe sie demütig unter die Werke seines Vaters und Nobelpreisträgers Thomas und seines Onkels Heinrich gestellt. Das sagt schon viel über seine schwierige Position.

Geboren wurde Klaus Mann am 18. November 1906 in München als zweites Kind von Thomas und Katia Mann. Sein vollständiger Name lautet Klaus Heinrich Thomas Mann. Das ist so platt wie beschreibend. Drei äußerst schwierige Startbedingungen prägen sein Literarisches Schaffen wie sein selbst verkürztes Leben: Der berühmte Vater, die zur vollständigen Auslebung drängende Homosexualität und sein Kampf gegen den Faschismus und für ein geeintes Europa. Am 21. Mai 1949 nahm sich Klaus Mann in Cannes das Leben.

Klaus Mann hätte sicherlich einen ganz langen und ausführlichen Artikel verdient. Aber ich fühle mich heute nicht danach. Aber ein paar Empfehlungen möchte ich aussprechen in Form einer Top-Five-Liste der für mich wichtigsten Bücher von Klaus Mann.

  1. Mephisto (1936) – Viele kennen von ihm nur dieses Werk. Und es ist auf jeden Fall eines seiner besten Bücher. Überdeckt wird es immer wieder von der einfachen Gleichung: Hendrik Höfgen im Roman = Gustaf Gründgens im Leben. Doch Klaus selbst wies immer wieder darauf hin, dass Mephisto nicht als Schlüsselroman zu lesen sei. Wir machen es uns mit dieser Lesart auch wirklich zu einfach; denn solche Typen wie Hendrik Höfgen gibt es viele. Die sind nicht alle mit Gründgens gestorben.
  2. Alexander. Roman einer Utopie (1929) – Die Geschichte Alexander des Großen. Mir kommt es vor, als hätte Klaus sich hier ein wenig am Verständnis eines Stefan Zweig orientiert. Natürlich ist aus dem Autor nicht schnell ein fundierter Historiker geworden. Trotzdem ist dieses Buch für an der griechischen Antike Interessierten wie auch träumenden Weltbürgern immer noch lesenswert.
  3. Symphonie Pathétique (1935) – Es geht um Tschaikowsky, wie er seine 6. Symphonie komponiert und die unglückliche Liebe zu seinem Neffen Wladimir. Klaus setzt diesem großen Komponisten aus dem Reigen homosexueller Künstler eine sehr empfindsames Denkmal.
  4. Der fromme Tanz. Das Abenteuerbuch einer Jugend (1926) – Mit 19 Jahren schrieb Klaus Mann das Buch, was einer (wenn nicht der) der erste Homosexuellen-Romane in deutscher Sprache. Davon ausgenommen sind wilhelminische Schoßbüchlein und andere Schundliteratur. Hier wurde das Thema Homosexualität auf die Agenda des Feuilletons gehoben. Schon dafür gebührt Klaus Ruhm und Ehre.
  5. Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht (1942, 1952) – Bereits 1932 als 26-Jähriger veröffentlichte Klaus Mann eine Autobiografie heraus. Das brachte ihm viel Häme ein, er litte doch wohl entschieden an Selbstüberschätzung. Heute liefern seine drei Autobiografien – The Turning Point erschien 1942 in den USA, Der Wendepunkt, von ihm überarbeitet, postum 1952 – ein gutes Bild das Lebens eines denkenden und fühlenden deutschen junge Mannes zu Zeiten der Weimarer Republik, des Faschismus und der frühes Nachkriegszeit.

John Stuart Mill und die Freiheit

Am 8. Mai 1873 starb der liberale Ökonom und Philosoph John Stuart Mill. Er war ein früher Verfechter der Emanzipation der Frau, überzeugter Anhänger des Utilitarismus und Schöpfer des Wortes Dsytopie zur Bezeichnung einer negativen Utopie.

Heute, am Tag der Befreiung, der, wie Richard von Weizsäcker 1984 sagte, auch ein Tag der Befreiung für Deutschland vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft war, möchte ich einen wichtigen Satz von Mill herausheben. Er ist aus seinem Werk On Liberty (1859):

That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others.

J. S. Mill nennt dies ein wirklich einfaches Prinzip (one very simple principle). Doch heute reiben wir uns die Schläfen wund, wann und wie denn nun die Freiheit eines Individuums eingeschränkt werden kann, bzw. wann auf offiziellem Weg ermittelt werden darf, ob ein solcher Fall eingetreten sei.

Ich spiele selbstverständlich auf Jan Böhmermann an, dessen Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“ gerade in aller Munde ist. Dem manchmal geistreichen Unterhaltungskünstler hat die große Öffentlichkeit nicht gut getan. Er versteigt sich zu einer Merkel-Kritik, die nur zeigt, dass er – wie viele – den eigentlichen Kern der Sache nicht verstanden hat. Von großen Teilen der Bevölkerung erwarte ich ja nichts anderes. Aber Böhmermann hätte die letzten Tage zum Nachdenken nutzen können.

Filetiert habe die Kanzlerin den Moderator und einem nervenkranken Despoten zum Tee serviert. Na, das klingt jetzt aber dramatisch. Frau Merkel bekannte, dass das eigentliche Schmähgedicht für sie bewusst verletzend sei. Sie sagte dies dem Präsidenten der Türkei, aber sie sprach doch nicht ex cathedra. Ein solcher Satz hat, auch aus dem Munde der Bundeskanzlerin, keine konstituierende Wirkung. Und dass die Regierung letztendlich ein Verfahren zur Prüfung zulässt, so wie es in geltenden Gesetzen vorgesehen ist, lässt sich in meinen Augen schwer zu einem haltbaren Vorwurf nutzen.

Einen deutschen Ai Weiwei habe Angela Merkel aus ihm gemacht, sagt Böhmermann weiter. Da kann ich ihn beruhigen. Es gibt wohl nichts, was die Kanzlerin machen oder sagen könnte, um Böhmermanns Niveau zu heben, schon gar nicht auf das des großen Ai Weiwei. Selbstverständlich ist eine Voruntersuchung und ein letztendliches Strafverfahren keine angenehme Sache. Und über die menschliche Not Böhmermanns möchte ich mich nicht erheben. Ich glaube aber, Ai Weiwei wäre deutlich glücklicher, wenn er all seine gegen ihn gerichteten Ermittlungen und Verfahren in Deutschland und nach deutschem Recht erdulden müsste. Das sollten wir nicht vergessen.

Wir leben nicht in einer Welt der unbegrenzten Freiheit, die persönliche Freiheit ist genau so beschränkt wie die Presse- und die Kunstfreiheit. Und das ist gut so. Denn die Freiheit, die wir haben, soll für alle gelten.

Eins möchte ich noch sagen: Ich hoffe, dass Jan Böhmermann freigesprochen wird. Ich denke, dass er diese Nummer mit dem Schmähgedicht recht geschickt eingefädelt hat. Ihm liegt – und da muss ich eine Polemik zum Niveau Böhmermanns leicht revidieren – fast etwas Faustisches inne. Wir erinnern uns an der Tragödie zweiten Teil. In seinem letzten Monolog sagt Faust:

Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!

Diese letzten Worte lassen Mephisto an den Sieg der Wette glauben. Doch der Teufel hat nicht genau hingehört; Faust hat im Konjunktiv gesprochen. Ähnlich verhält es sich mit dem Schmähgedicht. Natürlich kann man nicht unter der Überschrift „Ich zeige euch mal, was man nicht machen darf“ ungestraft einen Mord begehen. Aber auf der verbalen Ebene ist ein solches Verfahren statthaft. Sonst befinden wir uns in einer von Monty Python beschriebenen Szene: „Es ist verboten, Jehova zu sagen!“ – Na, wer hat jetzt „Jehova“ gesagt?

Aber das gerichtlich untersuchen zu lassen, muss erlaubt bleiben. Wir leben in einem Rechtsstaat. Der wirkt manchmal etwas schwerfällig. Der Lynchmob ist da deutlich agiler. Möchte jemand tauschen?

Die Freiheit jedes Einzelnen zu bewahren und vor ausufernden Handlungen anderer zu schützen, ist ein fortwährender Aushandlungsprozess. Jan Böhmermann ist dieser Tage zu einem prominenten Beispiel geworden, einen tragischen Helden macht ihn das aber noch lange nicht. Der, nämlich Faust, sagte kurz vor den oben zitierten Worten noch den Satz, mit dem ich meinen Eintrag abschließen möchte:

Das ist der Weisheit letzter Schluss:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muss.

Macha, ein Alphabet und die Selbstwirksamkeit

Seit Jahren und Jahrzehnten bin ich im Internet. Gehöre ich auch nicht zu der Generation der digital natives, habe ich als Student wichtige Phasen der Computerisierung und der Geburt des Internet mitverfolgen können. Ich habe auch schon seit zwei Jahrzehnten eigene Websites, die ersten noch voller Hochachtung mit fremder Hilfe, die späteren bis heute selbst erstellt.

Ich muss gestehen, ein wenig unzufrieden bin ich mit der Wirksamkeit meiner Aktivitäten. Man schreibt und rackert, aber häufig hat man den Eindruck, es interessiere praktisch niemanden. Doch dann passieren so besondere Dinge, die einen wieder mit dem eigenen Schicksal versöhnen.

Auf der Suche nach einer englischen Übersetzung des Gedichts Mai vom tschechischen Romantiker Karel Hynek Mácha stieß ich auf einen deutschen Blogeintrag aus dem Jahre 2012, in dem ein Alphabet vorgestellt wird, welches wiederum vom mährischen Grafiker Jakub Konvica nach Motiven aus dem Gedicht Máchas entworfen wurde. Und ganz nebenbei steht da, dass man das Gedicht auf Deutsch auf der Website vatermoerder.de lesen könne – mit Link.

Schön!

http://seite360.de/2012/03/13/handgezeichnetes-alphabet/
http://kyuu.eu/may.htm