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Künstliche Intelligenz und der Sonntag

Es ist Sonntag. Ich habe keine weiteren Verpflichtungen. Sogar die Weihnachtsgeschenke sind noch vor Beginn der Adventszeit gebastelt. Jetzt könnte ich mich um mein nächstes Buchprojekt kümmern. Das werde ich natürlich auch noch machen. Vorher erlaube ich mir allerdings noch ein wenig Müßiggang. Das steht dem Prinzen zu.

Vor einigen Wochen lag der Wochenzeitung Die Zeit ein Werbemagazin von Google bei: AUFBRUCH Künstliche Intelligenz – Was sie bedeutet und wie sie unser Leben verändert. Ich bin natürlich weit davon entfernt, Werbung für einen der größten Datenkraken unserer Zeit zu machen. Aber beim Durchblättern dachte ich so bei mir, dass wir vielleicht wirklich ein wenig unfair bei der Beurteilung sind. Künstliche Intelligenz, neuronale Netzwerke, selbstlernende Maschinen sind eine große Chance für die Menschheit. Statt Google vorzuwerfen, dass es dort investiert, sollten wir andere fragen, warum sie es nicht tun.

Ich hatte bei einem Glas Wein im Freundeskreis schon einmal die Idee ausgesponnen, Facebook müsse enteignet werden und der UNO überschrieben werden. Dann sollte ganz ohne Werbung und weitere versteckte Agenda jedem Erdenbürger bei Geburt ein Konto zugeteilt werden. Daran verknüpft sich selbstverständlichen die Forderung zur Ausstattung der Dritten Welt mit Computern und dem Ausbau des schnellen Internets in schwierigen Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern. Aber das ist wirklich eher etwas für Wein-Abende.

So, oder so, wir müssen uns mit den Digitalen Fragen beschäftigen. Wie versetzen wir die heutigen Schüler in die Lage, ein unabhängiges Urteil zu fällen? Oft kommen die Vorschläge Richtung digitalisierter Unterricht. Doch ich denke schon lange, dass ein Smart-Board im Klassenzimmer nicht gleich die Fähigkeit stärkt, über Big-Data, Chancen und Risiken von Netzwerken, Internet der Maschinen usw. nachzudenken. Peter Dabrock, Professor für Systematische Theologie und Vorsitzender des Deutschen Ethikrats kommt in besagter Google-Publikation mit einem kurzen Interview zu Wort. Dort sagt er zum Abschluss, dass er die Klassische Bildung für geeignet hält:

Sie vermittel[t], was ich Differenzkompetenz und Ambiguitätssensibilität nenne – dass man achtsam wird oder bleibt für die feinen Unterschiede, für nicht eindeutige Sachverhalte und individuelle Besonderheiten. Die Bibel, Goethes Faust, Mathematik, zwei Fremdsprachen, Musik und Sport – das scheint mir ein gutes Paket zu sein, um mit den Herausforderungen zurechtzukommen, die durch künstliche Intelligenz entstehen.

Man darf wohl nicht überbewerten, dass Herr Professor Dabrock in seinem Bildungskanon die Naturwissenschaften und den Geschichtsunterricht unterschlägt, sowie Kunst, Hauswirtschaftskunde und ausgerechnet Ethik bzw. Religion. Auch hat er sich mit diesem Satz sicher nicht gegen Informatik-Unterricht ausgesprochen. Ich kann ihm nur zustimmen!

Eigentlich wollte ich aber nur sonntäglich-leicht über eine Website von Google erzählen. Quick, Draw! ist ein Online-Spiel von Google, hinter dem ein neuronales Netzwerk steckt, das lernt, menschliche Krakelzeichnungen schnell zu entziffern. Für jede Zeichnung hat man 19 Sekunden Zeit. Nicht alle meine Versuche hat das Netzwerk erkannt – manchmal verständlicherweise, manchmal nicht.

20181125 Quickdraw 1

20181125 Quickdraw 2

20181125 Quickdraw 3

20181125 Quickdraw 4

Link
https://quickdraw.withgoogle.com/

Ewigkeitssonntag

Heute ist der letzte Sonntag im Kirchenjahr und trennt uns von der Adventszeit. Die Weihnachtsmärkte sind ja bereits aufgebaut. Wir warten ungeduldig, in den glühweinseligen Vorweihnachtstrubel zu gleiten. Aber zuvor kommt dieser etwas unbequeme Tag, der auch noch so einen düsteren Namen trägt: Totensonntag – oder etwas weniger düster aber schwerer: Ewigkeitssonntag.

Er symbolisiert für mich einen Kern der monotheistischen Religionen. An diesem Tag gedenken wir der Tatsache – für Agnostiker: der Möglichkeit –, dass es ein Regelsystem außerhalb unserer weltlichen Regeln gibt. Wir kennen uns in unserer Welt ganz gut aus. Wir wissen, was wir zu erwarten haben und was uns zusteht. Wir haben ein Gefühl für Gerechtigkeit. Nach diesem Leben wird aber ein anderer Maßstab an uns gelegt.

Im Evangelium nach Matthäus ist eine Weltgerichtsszene beschrieben, wo Jesus als König und Richter der Welt die Menschen einteilen wird, wie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet. Dann wird er zu denen zu seiner Rechten sagen (Matthäus 25, 34–40):

Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Auf dem Totenbett interessiert nicht mehr, ob wir in unserem Leben ein hochrangiger Politiker waren, ein Wirtschaftsboss oder ein Hochschulprofessor. Auf dem Totenbett werden wir wieder gleich; Sterbliche. Und nach dem Tod werden wir gerichtet.

Wenn in der Kapuzinergruft in Wien ein Habsburger Kaiser beigesetzt wurde, gab es eine interessante Zeremonie. Ein Herold geht dem Trauerzug voran. Er klopft an die Tür zur Gruft. Ein Kapuzinermönch fragt von innen, wer Einlass begehre. Der Herold antwortet mit der Aufzählung aller weltlichen Titel und Ränge des Verstorbenen. Von drinnen heißt es: „Wir kennen ihn nicht!“ Dann klopft der Herold ein zweites Mal und beantwortet die Frage mit der Kurzform der Titel. Auch hier lautet die Erwiderung: „Wir kennen ihn nicht!“ Nach dem dritten Klopfen antwortet der Herold auf die Frage: „Ein sterblicher und sündiger Mensch.“ Nun erhält der Verstorbene Einlass in die Gruft.

Der noble Frieden und Matthew Shepard

Gestern bekam die Initiative ICAN – International Campaign to Abolish Nuclear Weapons den Friedensnobelpreis für 2017 zuerkannt, für „ihre Arbeit, Aufmerksamkeit auf die katastrophalen humanitären Konsequenzen von Atomwaffen zu lenken“. Vor zehn Jahren wurde sie in Wien gegründet, bei der Konferenz des Atomwaffensperrvertrags. Noch zwei Jahre früher aber dafür genau am heutigen Tag, also am 7. Oktober 2005, erhielt die 1957 gegründete IAEOInternationale Atomenergie-Organisation in Wien gemeinsam mit ihrem damaligen Generaldirektor Mohammed el-Baradei den Friedensnobelpreis „für ihren Einsatz gegen den militärischen Missbrauch von Atomenergie sowie für die sichere Nutzung der Atomenergie für zivile Zwecke“. Die USA und Nordkorea zeigen uns in den letzten Wochen, dass die Gefahr noch lange nicht gebannt ist, dass nach der ersten in einem Konflikt abgeworfenen Atombombe über Hiroshima, die über Nagasaki nicht die letzte ihrer Art sein könnte.

Morgen ist der 25. Todestag von Willy Brandt. Auch er ist Träger des Friedensnobelpreises. Sein Verdienst ist die Versöhnung nach den Naziverbrechen und die langsame Wiederannäherung zwischen Ost und West. Dazu nutzte er die Politik der kleinen Schritte – und die große Geste des Warschauer Kniefalls.

Das ist wohl Grund genug für eine Top-Five-Liste von Nobelpreisträgern, die am 7. Oktober geboren oder gestorben sind. So allgemein muss ich es formulieren, um auf fünf Personen zu kommen.

  1. Niels Henrik David Bohr (07.10.1885–18.11.1962) erhielt 1922 den Nobelpreis für Physik für seine Verdienste um die Erforschung der Struktur der Atome und der von ihnen ausgehenden Strahlung.
  2. George Emil Palade (19.11.1912–07.10.2008) bekam 1974 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin zuerkannt für die Entdeckungen zur strukturellen und funktionellen Organisation der Zelle.
  3. Niels Kaj Jerne (23.12.1911–07.10.1994) wurde 1984 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin verliehen; für Theorien über den spezifischen Aufbau und die Steuerung des Immunsystems.
  4. Desmond Mpilo Tutu (07.10.1931) bekam 1984 den Friedensnobelpreis zuerkannt für sein Engagement im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika.
  5. Harold Walter Kroto (07.10.1939–30.04.2016) erhielt 1996 als einer von dreien den Nobelpreis für Chemie für die Entdeckung der Fullerene, auch Buckyballs genannt, einer neuen Form des Kohlenstoffs mit kugelförmigen Molekülen.

Der 7. Oktober ist aber nicht nur ein guter, ein nobler, ein friedlicher Tag. Der 7. Oktober ist auch in die Geschichte der LGBT-Bewegung eingebrannt. Am frühen Morgen des 7. Oktober 1998 wurde der damals 21-jährige Matthew Wayne Shepard von zwei Männern in der kleinen Universitätsstadt Laramie im Bundesstaat Wyoming ausgeraubt, geschlagen, misshandelt und an einen Zaun gefesselt. Der Radfahrer, der ihn entdeckte, hielt Shepard zuerst für eine Vogelscheuche. Am 12. Oktober 1998 verstarb Shepard im Krankenhaus. Er war nicht mehr aus dem Koma erwacht.

Die beiden Täter wurden nach Intervention von Shepards Eltern nicht zum Tode verurteilt. Sie sitzen je zweimal lebenslänglich ab. Nach diesem Mord wurden die Gesetze in den USA für hate crimes (Hassverbrechen) verschärft. Matthew Shepard wurde postum zu einer Galionsfigur der LGBT-Bewegung. Shepards Eltern gründeten die Matthew Shepard Foundation.

Die Westboro Baptist Church nahm die Gerichtsverhandlung und die Beerdigung zum Anlass, gegen die Rechte Homosexueller zu demonstrieren. Auf ihren Schildern standen Sätze wie „God hates Fags“ und „Matt in Hell“. Sie Beziehen sich auf ein krudes Verständnis alt-testamentarischer Textstellen.

Bereits im November 1998 ging das New York City Tectonic Theater Project nach Laramie. Aus den Ortsbesichtigungen und Interviews ging das Laramie Project hervor. 2001 wurde es verfilmt mit Schauspieler wie  Peter Fonda, Joshua Jackson, Christina Ricci, Laura Linney, Clea DuVall, Ben Foster und Steve Buscemi.

Auch im Bereich der Rock- und Pop-Musik fand der Mord an Matthew Shepard seinen Niederschlag. Hier muss ich die Regel der Top-Five-Liste gleich erweitern zu einer Top-Twelve-Liste der Songs, die von Matthew Shepard handeln oder ihm gewidmet sind. Auch diese Liste bleibt immer noch sehr unvollständig.

    • Scarecrow – von Melissa Etheridge auf Breakdown (1999)
    • Trouble the Waters – von Big Country auf Driving to Damascus (1999)
    • American Triangle – von Elton John und Bernie Taupin auf Songs from the West Coast (2001)
    • Laramie – von Amy Ray auf Stag (2001)
    • Scarecrow – Kristian Hoffman mit Rufus Wainwright auf & (2002)
    • Fear and Loathing in Laramie – von Protest the Hero auf A Calculated Use of Sound (2003)
    • Jesus Is On The Wire – von Peter, Paul and Mary (Original von Thea Hopkins) auf In These Times (2004)
    • Matthew – von Janis Ian auf Billie’s Bones (2004)
    • Above the Clouds – von Cyndi Lauper und Jeff Beck auf The Body Acoustic (2005)
    • Did You Just Say ‚Faggot‘? – von den Dangers auf Dangers (2005)
    • Poster Child – von A Balladeer auf Where Are You, Bambi Woods? (2008)
    • The Fence (Matthew Shepard’s Song) – von Peter Katz auf First of the Last to Know (2010)

Aber das schönste Lied (und deshalb außerhalb der Top-Twelve-Liste) stammt vom kanadischen Singer-Songwriter Ron Sexsmith. Es heißt God Loves Everyone und findet sich auf seinem Album Cobblestone Runway aus dem Jahr 2002. Hier ein Video von YouTube:

Und noch eine Version:

Links
http://www.tectonictheaterproject.org/
http://www.matthewshepard.org/

John Stuart Mill und die Freiheit

Am 8. Mai 1873 starb der liberale Ökonom und Philosoph John Stuart Mill. Er war ein früher Verfechter der Emanzipation der Frau, überzeugter Anhänger des Utilitarismus und Schöpfer des Wortes Dsytopie zur Bezeichnung einer negativen Utopie.

Heute, am Tag der Befreiung, der, wie Richard von Weizsäcker 1984 sagte, auch ein Tag der Befreiung für Deutschland vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft war, möchte ich einen wichtigen Satz von Mill herausheben. Er ist aus seinem Werk On Liberty (1859):

That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others.

J. S. Mill nennt dies ein wirklich einfaches Prinzip (one very simple principle). Doch heute reiben wir uns die Schläfen wund, wann und wie denn nun die Freiheit eines Individuums eingeschränkt werden kann, bzw. wann auf offiziellem Weg ermittelt werden darf, ob ein solcher Fall eingetreten sei.

Ich spiele selbstverständlich auf Jan Böhmermann an, dessen Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“ gerade in aller Munde ist. Dem manchmal geistreichen Unterhaltungskünstler hat die große Öffentlichkeit nicht gut getan. Er versteigt sich zu einer Merkel-Kritik, die nur zeigt, dass er – wie viele – den eigentlichen Kern der Sache nicht verstanden hat. Von großen Teilen der Bevölkerung erwarte ich ja nichts anderes. Aber Böhmermann hätte die letzten Tage zum Nachdenken nutzen können.

Filetiert habe die Kanzlerin den Moderator und einem nervenkranken Despoten zum Tee serviert. Na, das klingt jetzt aber dramatisch. Frau Merkel bekannte, dass das eigentliche Schmähgedicht für sie bewusst verletzend sei. Sie sagte dies dem Präsidenten der Türkei, aber sie sprach doch nicht ex cathedra. Ein solcher Satz hat, auch aus dem Munde der Bundeskanzlerin, keine konstituierende Wirkung. Und dass die Regierung letztendlich ein Verfahren zur Prüfung zulässt, so wie es in geltenden Gesetzen vorgesehen ist, lässt sich in meinen Augen schwer zu einem haltbaren Vorwurf nutzen.

Einen deutschen Ai Weiwei habe Angela Merkel aus ihm gemacht, sagt Böhmermann weiter. Da kann ich ihn beruhigen. Es gibt wohl nichts, was die Kanzlerin machen oder sagen könnte, um Böhmermanns Niveau zu heben, schon gar nicht auf das des großen Ai Weiwei. Selbstverständlich ist eine Voruntersuchung und ein letztendliches Strafverfahren keine angenehme Sache. Und über die menschliche Not Böhmermanns möchte ich mich nicht erheben. Ich glaube aber, Ai Weiwei wäre deutlich glücklicher, wenn er all seine gegen ihn gerichteten Ermittlungen und Verfahren in Deutschland und nach deutschem Recht erdulden müsste. Das sollten wir nicht vergessen.

Wir leben nicht in einer Welt der unbegrenzten Freiheit, die persönliche Freiheit ist genau so beschränkt wie die Presse- und die Kunstfreiheit. Und das ist gut so. Denn die Freiheit, die wir haben, soll für alle gelten.

Eins möchte ich noch sagen: Ich hoffe, dass Jan Böhmermann freigesprochen wird. Ich denke, dass er diese Nummer mit dem Schmähgedicht recht geschickt eingefädelt hat. Ihm liegt – und da muss ich eine Polemik zum Niveau Böhmermanns leicht revidieren – fast etwas Faustisches inne. Wir erinnern uns an der Tragödie zweiten Teil. In seinem letzten Monolog sagt Faust:

Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!

Diese letzten Worte lassen Mephisto an den Sieg der Wette glauben. Doch der Teufel hat nicht genau hingehört; Faust hat im Konjunktiv gesprochen. Ähnlich verhält es sich mit dem Schmähgedicht. Natürlich kann man nicht unter der Überschrift „Ich zeige euch mal, was man nicht machen darf“ ungestraft einen Mord begehen. Aber auf der verbalen Ebene ist ein solches Verfahren statthaft. Sonst befinden wir uns in einer von Monty Python beschriebenen Szene: „Es ist verboten, Jehova zu sagen!“ – Na, wer hat jetzt „Jehova“ gesagt?

Aber das gerichtlich untersuchen zu lassen, muss erlaubt bleiben. Wir leben in einem Rechtsstaat. Der wirkt manchmal etwas schwerfällig. Der Lynchmob ist da deutlich agiler. Möchte jemand tauschen?

Die Freiheit jedes Einzelnen zu bewahren und vor ausufernden Handlungen anderer zu schützen, ist ein fortwährender Aushandlungsprozess. Jan Böhmermann ist dieser Tage zu einem prominenten Beispiel geworden, einen tragischen Helden macht ihn das aber noch lange nicht. Der, nämlich Faust, sagte kurz vor den oben zitierten Worten noch den Satz, mit dem ich meinen Eintrag abschließen möchte:

Das ist der Weisheit letzter Schluss:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muss.

Geburtstag von Phil Ochs und die Abschaffung der Sklaverei

In den letzten Monaten des Amerikanischen Bürgerkrieges (1861–1865) wurde der Dreizehnte Zusatz zur Amerikansichen Verfassung im Kongress mit einem Stimmenverhältnis von 119 zu 56 verabschiedet (31. Januar 1865). Die Urkunde wurde am Tag darauf von Abraham Lincoln unterzeichnet und ist damit der einzige Verfassungszusatz, der überhaupt von einem Präsidenten unterzeichnet wurde. Er schrieb noch das Wort „Approved“ vor seinen Namen, was „gebilligt“ meinen kann aber auch schlicht „vorschriftsmäßig“. Um wirklich Teil der Verfassung zu werden, muss ein Verfassungszusatz von 3/4 der Staaten ratifiziert werden. Dieses Ziel war am 6. Dezember 1865 mit der Ratifizierung durch den Staat Georgia erreicht. Am 18. Dezember 1865, also gestern vor genau 150 Jahren, wurde die endgültige Abschaffung der Sklaverei auf dem Boden der USA verkündet. Abraham Lincoln war da bereits mehrere Monate tot. Er war im Ford’s Theatre in Washington DC zu Karfreitag, der 1865 auf den 14. April fiel, erschossen worden.

13th Amendment
13th Amendment

Also 150 Jahre ohne Sklaverei! Oder doch nur zwei; denn der Staat Mississippi bestätigte den Dreizehnten Verfassungszusatz erst am 7. Februar 2013 (sic!). Doch der 18. Dezember 1865 ging in die Geschichte ein als das offizielle Datum der Abschaffung der Sklaverei.

75 Jahre und einen Tag später wurde Phil Ochs am 19. Dezember 1940 in El Paso, Texas geboren. Er ist ein bedeutender Singer & Songwriter, der in den 1960er Jahren Bob Dylan starke Konkurrenz machte, und heute ist er – in Deutschland – leider fast vollständig unbekannt. Seine Selbstbezeichnung war die eines Topic Singers, im Gegensatz zum Protest Singer. Er sang über All the news that’s fit to sing, was auch gleich der Titel seines ersten Albums 1964 wurde. Es ist die Abwandlung des Claims der New York Times: All the news that’s fit to print. Bob Dylan soll ihn mal aus einem gemeinsamen Taxi geworfen haben mit dem Vorwurf: Du bist kein Songwriter, du bist Journalist! Phil Ochs nahm sich am 9. April 1976 in New York City das Leben – fünf Tage vor dem 111. Todestag Abraham Lincolns.

Phil Ochs ist aus unserer heutigen Perspektive also ein Beobachter des Halbzeitzwischenstands – bzw. Zweidrittel; denn als Phil Ochs mit 24 sein ersten Album veröffentichte, bereitete man sich schon auf das hundertjährige Jubiläum vor. Wie stand es also um die Gleichheit von Schwarzen und Weißen in den USA?

Die Frage ist nicht ganz ernst gemeint. Auch in deutschen Schulbüchern kann man von den bürgerbewegten 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts lesen. Wieder ist ein Präsident erschossen worden (John F. Kennedy am 22. November 1963) und vor allem in Südstaaten der USA kämpfen die Nachfahren der Sklaven einen schier aussichtslosen Kampf um Gleichheit. Eine in Deutschland wieder recht unbekannte Ikone der Bürgerrechtsbewegung ist Medgar Evers, der am 12. Juni 1963 in Jackson, Mississippi erschossen wurde. Evers war Weltkriegs-Veteran und wurde mit militärischen Ehren bestattet. Doch sein Mörder überstand in den 60ern zwei schmutzige Prozesse und wurde erst 1994 (sic!) bei einem Revisionsverfahren verurteilt. Er starb 2001 im Gefängnis.

Der Mord an Medgar Evers und die folgende Prozess-Farce schlug sich 1964 in der Singer-&-Songwriter-Szene nieder. Bob Dylan schrieb Only a pawn in their game. Und Nina Simone brachte Mississippi goddam heraus. Phil Ochs sang Too many martyrs und bezog sich darin neben Medgar Evers auch noch auf den Lynchmord des 14-jährigen Emmet Till aus dem Jahre 1955.

https://www.youtube.com/watch?v=fVQjGGJVSXc

Nina Simones Reaktion auf den Mord an Medgar Evers geht mir besonders nahe. Das Lied wurde damals allerdings großflächig von Radiostationen boykottiert mit Verweis auf den religiöse Gefühle verletzenden Kraftausdruck im Titel. Goddam! Man fragt sich wirklich, was schlimmer ist.

In der Nacht vom 21. zum 22. Juni 1964 wurden in Philadelphia, Mississippi drei Bürgerrechtler, die Schwarzen halfen, sich für die Wahlen registrieren zu lassen, von Mitgliedern des Ku Klux Klan ermordet. Möglich wurde dies unter anderem, weil den Mördern von staatlicher Seite Informationen zum Auffenthaltsort der drei Aktivisten zugespielt worden waren. Sie hießen: James Chaney, Andrew Goodman und Michael Schwerner. Endlich 2005 (sic!) wurde Edgar Ray „Preacher“ Killen, einer der Mörder, zu dreimal 20 Jahren Haft verurteilt. 2014 verlieh Barack Obama Chaney, Goodman und Schwerner die Presidential Medal of Freedom.

Pete Seeger schrieb 1964 Those three are on my mind und Tom Paxton nannte seinen Song schlicht Goodman, Schwerner, and Chaney. Phil Ochs gab so etwas wie einen zynisch-bitteren Trinkspruch aus: Here’s to the State of Mississippi!

Die bekannteste Spur aber haben die Morde wohl in Hollywood hinterlassen. Am 9. Dezember 1988 erschien der mehrfach preisgekrönte Kinofilm Mississippi burning, der sich im freien Umgang mit dem historischen Material den Verbrechen des Ku Klux Klans widmete. Gene Hackman und Willem Dafoe untersuchen die Morde an den drei Bürgerechtlern, die hier nur die Jungs genannt werden.

Später sang Ochs das Lied – in der Tradition des Topic Singers – mit verändertem Text unter dem Titel Here’s to the State of Richard Nixon. Eddie Vedder stellte sich am 11. September 2007 in eben diese Tradition mit seiner Version: Here’s to the State of George W. Das Video zeigt Vedder beim Toronto International Film Festival, wo der Dokumentarfilm Body of war den dritten Platz des Publikumspreises erhielt. Eddie Vedder zeichnet verantwortlich für die Musik des Films. Zu der Dokumentation ist außerdem noch eine Doppel-CD erschienen, auf der neben Eddie Vedder auch andere Größen bis Giganten des politischen Liedes zu hören sind. Es ist ein äußerst interessanter Zufall, dass diese Präsentation in Toronto genau auf den 11. September fiel.

Denn in Body of war geht es um einen verwundeten Veteran des Irak-Krieges, der in Folge der Anschläge des 11. September 2001 von George W. Bush unter damals schon fragwürdigen – heute bekanntermaßen gefälschten – Gründen vom Zaun gebrochen wurde.

An den Kriegen der Vereinigten Staaten hat sich Phil Ochs ebenfalls immer wieder abgearbeitet. In seinem Song What are you fighting for heißt es:

Before you pack your rifle and sail across the sea
Just think upon the southern part of the land that you call free
Oh, there’s many kinds of slavery and we’ve found many more
I know you’re set for fightin‘, but what are you fighting for?

Heute wäre Phil Ochs 75 Jahre alt. 150 Jahre und einen Tag gibt es – offiziell – keine Sklaven mehr in den USA. Doch wir werden uns alle noch weiter anstrengen müssen, um tatsächlich die Gleichheit aller Menschen weltweit zu erreichen.

Links
http://www.stopwar.org.uk/index.php/music3/phil-ochs-what-are-you-fighting-for
http://www.loc.gov/exhibits/hope-for-america/political-songs.html
http://www.bodyofwar.com/
und immer wieder http://de.wikipedia.org/

Der wohl letzte Auschwitz-Prozess

Jetzt muss ich doch noch einen Eintrag an diesem Tag machen, weil mich die Nachrichten berühren. Nach den traurigen Ereignissen in Tröglitz, wo übrigens eines der zahlreichen Außenlager des KZ Buchenwald betrieben wurde, geschieht dieser Tage etwas anderes Bemerkenswertes. In Lüneburg begann gestern der wahrscheinlich letzte Auschwitz-Prozess der Geschichte. Die Anklage legt dem 93-jährigen Oskar Gröning Beihilfe zum Mord in mehr als 300.000 Fällen zur Last.

Ich bin nun ganz und gar kein Jurist und kann daher die rechtliche Relevanz nicht beurteilen. Einerseits denke ich schon, was man einen 93-Jährigen vor Gericht stellen soll. Wie soll man den denn bestrafen? Was soll er aus diesem Prozess noch lernen? Andererseits kann man einen Täter auch nicht ungeschoren davonkommen lassen. Aber interessanter – und noch trauriger – ist doch, dass es 70 Jahre brauchte, um zu einer Rechtsauffassung zu gelangen, die es ermöglichte, Oskar Gröning vor Gericht zu stellen. Seine zweijährige Dienstzeit in Auschwitz ist schon länger kein Geheimnis.

Bekannt wurde Gröning als Buchhalter von Auschwitz. 1921 in Nienburg geboren trat er mit zwölf Jahren in die Hitlerjugend ein. Nach der Schule beginnt er eine Ausbildung bei der Sparkasse. Mit 18 wird er Mitglied der Waffen-SS und wird mit 21 als SS-Rottenführer für eine „kriegswichtige“ Aufgabe abkommandiert. Er ist zuständig für die „Häftlingsgeldverwaltung“ im Vernichtungslager Auschwitz. Er hat wohl niemals selbst direkt einen Menschen getötet. Aber er war nicht nur stummer Zeuge von Verbrechen, sondern hat mir seiner Tätigkeit dieses verbrecherische System am Leben erhalten. Gröning selbst betont, dass er um Versetzung gebeten habe. Tatsächlich war er das letzte Kriegsjahr nicht im KZ tätig, sondern an der Front eingesetzt. Gestern nun sagte er vor dem Gericht in Lüneburg (zitiert nach Der Tagesspiegel, 22.04.2015 und spiegel.de, 21.04.2015):

Es steht außer Frage, dass ich mich durch meine Tätigkeit moralisch mitschuldig gemacht habe. Zu dieser moralischen Mitschuld bekenne ich mich mit Reue und Demut vor den Opfern. […] Ich bitte um Vergebung. Über die Frage der strafrechtlichen Schuld müssen Sie entscheiden.

Oskar Gröning ist damit zu einer bedeutenden historischen Persönlichkeit geworden, deren Bedeutung nicht nur in den Zahlen begründet ist, die dem Buchhalter von Auschwitz selbst so sehr liegen, nämlich der wahrscheinlich letzte NS-Verbrecher zu sein, dem der Prozess gemacht wird. Von ihm stammt, meines Wissens, das erste Schuldeingeständnis eines solchen Täters, verbunden mit einer verbalen Verneigung vor den Opfern. Auch das hat also 70 Jahre gedauert. Aber es ist doch noch geschehen.

Die Öffentlichkeit hat Oskar Gröning selbst gesucht. Denn dem Gelaber der Auschwitz-Leugner wollte er, der Mittäter, der allen Verbrechen in Auschwitz mindestens beiwohnte, ein Zeugnis entgegenstellen.

Während ich mich über die Biographie Grönings informiere, kommen mir natürlich auch andere Gedanken. Wer bin ich, über diesen Menschen zu urteilen? Wer 1933 gerade einmal 12 Jahre alt ist, kann doch kaum für seine Taten verantwortlich gemacht werden. Mit 21 einen „kriegswichtigen“ Auftrag zu erhalten; das ist doch auch eine berufliche Chance, die man nutzen muss. Natürlich bleibt jede Frage, wie ich mich selbst verhalten hätte, eine rein hypothetische.

Aber dann fällt mir die Weiße Rose ein. Sophie Scholl war genau einen Monat und einen Tag älter als Oskar Gröning. Sie hat einen anderen Weg gewählt.

 

Links
tagesspiegel.de/themen/reportage/
spiegel.de/spiegel/print/
spiegel.de/panorama/justiz/